Ein Windrad vor einer Ortschaft auf der Schwäbischen Alb.

Blockade durch Bürgerbegehren "Energiewende? Ja, aber nicht vor meiner Haustür!"

Stand: 30.11.2024 10:11 Uhr

Bürgerbegehren ermöglichen es Menschen, Einfluss auf konkrete Entscheidungen vor der eigenen Haustür zu nehmen. Das Problem: Sie können auch wichtige Investitionen für das Gemeinwohl ausbremsen.

Von Thomas Falkner, mdr

In der Gemeinde Kriebstein in Sachsen wird seit 150 Jahren Papier hergestellt. Heute arbeiten in dem Werk, das zur WEPA-Gruppe gehört, 260 Mitarbeiter. Die Fabrik ist spezialisiert auf die Produktion von Hygienepapieren. Die Abnehmer, vor allem große Handelsketten, verlangen zunehmend klimaschonende Herstellungsverfahren.

Um diese Umstellung voranzubringen, entwickelte die Werksleitung der Papierfabrik Pläne zum Bau eines Solarparks - auf einer Ackerfläche am Ortsrand der Gemeinde. Die Eigentümerfamilie war auch verkaufsbereit, so Werksleiter Maximilian Hauertmann.

In der näheren Umgebung gibt es auch nur eine Handvoll Anwohner, die sich überhaupt gestört fühlen könnten. Dennoch stimmte eine Mehrheit der rund 1.700 Wahlberechtigten in Kriebstein in einem Bürgerentscheid gegen das Vorhaben. Einzelne Anwohner befürchteten eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. Andere stehen der Energiewende insgesamt skeptisch gegenüber.

Energiepolitische und industrielle Projekte ausgebremst

Der Verein Mehr Demokratie e.V. hat 2023 in einem Bericht zu Bürgerbegehren in Deutschland Verfahren mit Bezügen zur Energiewende ausgewertet. Danach gab es im Zeitraum von 2013 bis 2022 bundesweit 40 Bürgerbegehren zu Photovoltaik-Freiflächenanlagen. Davon hatten 29 eine "bremsende" Zielrichtung. Zum Bau von Windkraftanlagen gab es 111 Bürgerbegehren. Davon richteten sich 76 gegen die Vorhaben.

Aber auch Infrastruktur-Entscheidungen, die nichts mit der Energiewende zu tun haben, sind Bürgern oftmals ein Dorn im Auge. Die Ausweisungen von Gewerbe- und Industriegebieten etwa sind regelmäßig Gegenstand von Bürgerbegehren.

Umweltzerstörung und "Größenwahn" angeprangert

In der Nähe von Leipzig, in der Gemeinde Wiedemar, wollte der Freistaat Sachsen einen Hochtechnologiestandort entwickeln: ein Industriegebiet mit einer Fläche von über 400 Hektar. "Da haben wir in Ostdeutschland Standortvorteile, die wir nutzen sollten", sagt Dirk Diedrichs, der Beauftragte für Großansiedlungen im Freistaat Sachsen.

Die Gemeinde versprach sich von dem Vorhaben erhebliche Entwicklungsmöglichkeiten. Anwohner forderten jedoch einen Stopp der Pläne. Das Projekt sei mit massiver Umweltzerstörung verbunden und "größenwahnsinnig." Lärm und Verkehr würden das Landleben stören. 

Drei Millionen Euro vergeblich investiert

Eine Bürgerinitiative organisierte den Widerstand, sammelte Unterschriften für einen Bürgerentscheid. Am 1. September wurde in Wiedemar nicht nur der sächsische Landtag neu gewählt, sondern auch über die Pläne für das Industriegebiet abgestimmt: Eine deutliche Mehrheit lehnte das Vorhaben ab.

Wie Nancy Schultze, die Projektmanagerin des Freistaates, erklärt, hat das Land über drei Millionen Euro in das Projekt investiert, zum Beispiel für Gutachten zur Umweltverträglichkeit. In der Ablehnung sieht sie eine vertane Chance für die wirtschaftliche Entwicklung in der Region. 

Demokratie der Neinsager?

In der Politikwissenschaft spricht man auch von einem "Status-Quo-Bias", wie Annette Elisabeth Töller sagt, Politikwissenschaftlerin an der Fernuniversität Hagen. Das heißt, es gehe bei Bürgerentscheiden häufig gegen Veränderung. Im Hinblick auf Infrastruktur-Entscheidungen ist gelegentlich auch von einer "Neinsager-Demokratie" die Rede.

Einzelne Bundesländer planen daher inzwischen Einschränkungen bei der direkten Demokratie. So haben in Hessen CDU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass Bürgerbegehren zukünftig "wichtige Infrastrukturprojekte in ihrer zügigen Realisierung nicht gefährden" sollten. Große kommunale Bauprojekte, die ein Planfeststellungsverfahren oder andere umfangreiche Zulassungsverfahren benötigen, sollen danach von einer Thematisierung in kommunalen Bürgerentscheiden ausgenommen werden.

Bürgerentscheid rettet Bürgerentscheid

Auch in Bayern sollen die Verfahren für Bürgerentscheide auf den Prüfstand. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte in einer Regierungserklärung im Juni, Bürgerentscheide würden zunehmend als Blockade eingesetzt. Man müsse die "richtige Balance" finden zwischen Allgemeinwohl und Partikularinteressen. Opposition und Verbände warnen indes vor Schaden für die Demokratie.

In Schleswig-Holstein hatte die Landesregierung bereits 2023 eine Gesetzesreform beschlossen, die die direkte Demokratie in den Gemeinden und Kreisen einschränkte. Die Entscheidung stieß allerdings auf erheblichen Widerstand. Die Initiative "Rettet den Bürgerentscheid!" sammelte knapp 28.000 Unterschriften und brachte die Landesregierung dazu, die Einschränkungen in weiten Teilen wieder zurückzunehmen.