Energieversorgung Und immer noch nutzt Europa russisches Gas
Trotz des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Russland in der EU immer noch Abnehmer für sein Gas. Das wird teilweise auch durch die Ukraine transportiert - etwa nach Österreich.
Die Europäische Union ist sich weitgehend einig: Russland wird sanktioniert, und die Ukraine soll unterstützt werden. Der russische Angriffskrieg aus Russland tobt seit mehr als zweieinhalb Jahren, und seitdem musste unter anderen Deutschland Alternativen finden, um etwa die wegfallenden Gaslieferungen aufzufangen. Vergleichsweise in Rekordtempo hat man hierzulande LNG-Terminals für flüssiges Gas gebaut und sich von Russland unabhängig gemacht. Ähnlich auch unser Nachbarland Polen.
Doch so agieren nicht alle EU-Länder. Denn russische LNG-Tanker landen regelmäßig im belgischen Zeebrügge und an diversen französischen und spanischen LNG-Terminals. Verglichen mit dem ersten Halbjahr 2022 - rund um den Ausbruch des Ukraine-Krieges - bezog Belgien im gleichen Zeitraum dieses Jahres gut 50 Prozent mehr Erdgas aus Russland als vor der Krise. Frankreich immerhin plus neun Prozent, Spanien plus 55 Prozent. Ein Teil dieser Importe, berichtet der Branchendienst KPLER, beruht auf Verträgen aus der Zeit vor dem Krieg. Wer das Gas nicht kauft, müsste Konventionalstrafe zahlen. Zumindest so lange, bis die EU einen generellen Importstopp, ein Embargo beschließt.
Russland setzt Eisbrecher-Tanker ein
Gleichzeitig hat Russland seine LNG-Kapazitäten ausgebaut, vor allem in arktischen Regionen, in denen vergleichsweise teure Eisbrecher-Tanker genutzt werden müssen. Wenn die zum Weltmarkt unterwegs seien, berichtet Georg Zachmann vom Brüsseler Thinktank Bruegel, kommen sie als erstes an den europäischen Häfen vorbei - und eine lange Reise bis in die asiatischen Märkte wäre teuer.
Erst recht, seit die Durchfahrt durch den Suez-Kanal durch die Huthi-Rebellen riskant geworden ist. Also wird das Gas europäischen Kunden angeboten, und zwar etwas günstiger als Gas aus Katar oder den USA. Und solange es keinen Boykott für Gas aus Russland gibt, greifen viele Kunden dort zu - auch europäische.
Ukraine betreibt Pipelines für die Russen
Auf der anderen Seite fließt auch immer noch russisches Gas - quer durch die Ukraine - durch Pipelines bis nach Österreich, die Slowakei, Ungarn und in benachbarte Länder. Österreich hatte noch 2018 einen Vertrag mit dem russischen Unternehmen Gazprom geschlossen, der bis 2040 läuft. Der teilstaatliche österreichische Energiekonzern OMV müsste das Gas auch dann bezahlen, wenn er es nicht mehr abnehmen würde.
Ungarn hat sogar in diesem Frühjahr noch neue Verträge mit Gazprom geschlossen: Die durch die Ukraine führenden Leitungen sind bislang von militärischen Schäden verschont geblieben, die Ukraine erfüllt ihren Vertrag mit Gazprom. Möglicherweise auch auf Wunsch der EU. Doch dieser Vertrag endet mit dem nächsten Jahreswechsel, und Präsident Selenskyj hat bereits angekündigt, ihn nicht zu verlängern.
Fünf Prozent des gesamten Erdgasverbrauches der EU fließt heute noch durch diese Leitungen der Ukraine. Eine Menge, die sich laut Georg Zachmann innerhalb weniger Monate durch Lieferungen aus anderen Regionen ersetzen ließe - auch durch LNG aus Katar oder den USA. Das ergäbe nur einen moderaten Aufpreis. Es wäre allerdings eine Herausforderung, das Gas mit vorhandenen Leitungen von den Häfen an Atlantik und Mittelmeer in die Binnenländer zu bringen.
Eine "türkische Mischung"
Es gibt allerdings eine weitere Alternative. Der türkische Präsident Erdogan will sein Land schon länger zu einem regional bedeutenden Gashandelszentrum ausbauen. Mit "Turkstream" besitzt die Türkei eine große Pipeline, die russisches Gas ins Land transportiert. Sie wird aktuell noch ausgebaut. Die Türkei kann zudem Gas aus dem Nachbarland Aserbaidschan beziehen und mit weiteren Pipelines über Griechenland Richtung Italien schicken - und über Bulgarien auch nach Österreich, Ungarn und deren Nachbarstaaten.
Die Türkei hat mittlerweile selbst - wenn auch kleine - Gasvorkommen erschlossen, besitzt LNG-Terminals und hat Lieferverträge für LNG auch aus Katar. So kann das Land nun Gas aus diversen Quellen beliebig mischen, in der Branche nennt sich das Produkt dann "Turkish Blend". Laut Bruegel-Experte Zachmann ist das für die Branche typisch: Man kaufe oft von Tradern schlichtweg Mengen - wo die Moleküle dann herkommen, sei spätestens auf der nächsten Handelsstufe nichtig. Es sei denn, es gäbe ein strenges internationales Sanktionsregime, wie etwa bei iranischem Öl - mit strengen Herkunftsnachweisen.
Gasembargo nicht in Sicht
Niemand kennt die genauen Preise aller im Gashandel mit Russland abgeschlossenen Verträge. Selbst bei bewusst sehr niedrig angesetztem Marktwert für Erdgas hat Russland auch zur Finanzierung seiner Kriegswirtschaft durch Gasimporte der EU mindestens 12,5 Milliarden Euro allein im vergangenen Jahr eingenommen. Obwohl die EU eine Reihe durchaus strenger Sanktionen gegen Russland beschlossen hat, gibt es beim Gas lediglich eine vage Absichtserklärung, Importe ab 2027 zu beenden.
Ein echtes Embargo müsste einstimmig beschlossen werden. Davon ist die EU weit entfernt. Nicht nur wegen des ungarischen Präsidenten Viktor Orban, der noch in diesem Frühjahr zusätzliche Lieferverträge mit Russland abgeschlossen hat. Die Länder Südosteuropas könnten sich auch ohne russisches Gas versorgen, wenn auch mit zwar moderatem, aber spürbarem Preisaufschlag.
Die scheidende Energiekommissarin der EU, Kadri Simson, erklärte kürzlich: "Es gibt keinerlei Notwendigkeit, russisches Gas zu kaufen. Das ist eine politische Entscheidung, eine gefährliche Entscheidung, auch auf Kosten von Leben in der Ukraine." Aktuell fragt man sich allerdings, was wohl früher endet: die Abhängigkeit Europas von russischem Gas oder der Ukraine-Krieg.