Interview zur Zukunft der Gewerkschaften "Ver.di hat Probleme mit Rosinenpickern"
Auf dem ver.di-Bundeskongress hat der Vorsitzende Bsirske vor der Aufsplitterung der Gewerkschaften gewarnt. Ver.di verliert tausende Mitglieder. Kleinere Branchengewerkschaften erstarken. Wohin geht die Entwicklung? tagesschau.de sprach mit dem Gewerkschaftsforscher Esser.
Auf dem ver.di-Bundeskongress hat der Vorsitzende Frank Bsirske vor der Aufsplitterung der Gewerkschaften gewarnt. Ver.di verlor seit 2001 mehr als 500.000 Mitglieder, während kleine Branchengewerkschaften wie die der Ärzte oder Fluglotsen sich kampfstark zeigen. Wohin geht die Entwicklung? tagesschau.de sprach mit dem Gewerkschaftsforscher Josef Esser.
tagesschau.de: Trotz Mitgliederverlusten viele Erfolge – so hat der Vorsitzende Frank Bsirske auf dem ver.di-Kongress die bisherige Geschichte seiner Gewerkschaft dargestellt. Hat er recht?
Josef Esser: Mit Sicherheit nicht. Die Gewerkschaft ist 2001 aus fünf Einzelgewerkschaften neu entstanden, die Mitgliederverlusten und Finanzierungsproblemen durch eine neue, große Einheit begegnen wollten. Es ist aber bisher nicht gelungen, die diese fünf wirklich unter einen Hut zu bringen.
tagesschau.de: Woran liegt das?
Esser: Der klassische Öffentliche Dienst hat ein ganz anderes Interesse als die Mitarbeiter von Handel, Banken und Versicherungen oder bei der Deutschen Telekom. In vielen dieser Bereiche waren die Beschäftigten in den letzten Jahren außerdem mit Arbeitsplatzverlusten und Arbeitszeiterhöhungen konfrontiert.
Und die Probleme werden weitergehen: Durch die Föderalismusreform werden alle Bundesländer einzelne Tarifverhandlungen für ihre Beschäftigten führen können. Auch der Trend zur Privatisierung von kommunalen Betrieben geht weiter. Hier steht ver.di vor enormen Problemen, die jeweiligen Arbeitsbedingungen und den Lohn zu erhalten. Den Streik der Telekom-Beschäftigten hat die Gewerkschaft als Erfolg dargestellt - ich sehe das nicht so. Auch hier mussten Zugeständnisse an das Management gemacht werden.
tagesschau.de: Haben die anderen großen Gewerkschaften ähnliche Probleme?
Esser: Die IG Metall hat aufgrund der besseren ökonomischen Lage in der Metall- und Elektroindustrie ganz andere Voraussetzungen. Sie steht auch unter Druck, aber sie hat es geschafft, durch eine flexible Tarifpolitik den Mitgliederschwund zu stoppen. Es gibt zwar immer noch einen Flächentarifvertrag, aber im Rahmen des Vertrags sind in den Betrieben Abweichungen nach unten und oben möglich. Die Betriebsräte werden daher in den Betrieben von den Beschäftigten als wichtige Verhandlungspartner gegenüber dem Management wahrgenommen. Das stärkt die IG Metall. Außerdem haben die IG Metall und die IG BCE erkannt, dass es wichtig ist, sich um die Weiterbildung der Beschäftigten zu kümmern und dafür entsprechende Tarifverträge durchgesetzt.
"Solidarität wird in Frage gestellt"
tagesschau.de: Kann sich ver.di dort etwas abgucken?
Esser: Ver.di könnte von der IG Metall oder der IG Chemie vielleicht lernen, wie man auf unterschiedliche Bedingungen in bestimmten Bereichen flexibel reagiert und die Mitglieder wieder stärker aktiviert. Aber insgesamt sind die Bedingungen zu unterschiedlich, um hier große Vergleiche ziehen zu können. Bei ver.di geht der Trend vermutlich doch dahin, dass die große Einheitsgewerkschaft nicht weiter so erhalten bleiben kann. Im Vergleich zu anderen Gewerkschaften hat ver.di das größte Problem mit kleinen – wie ich sie nenne – "Rosinenpicker-Gewerkschaften". Die Fluglotsen waren beispielsweise früher in der ver.di-Vorgängerin ÖTV organisiert. Die gestärkte Stellung der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund hat die Beschäftigten im Gesundheitswesen gespalten. Die Pflegerinnen und Pfleger sind weiterhin bei ver.di, die Lohnspreizung zwischen ihnen und den Ärzten nimmt zu. Die Solidarität der Beschäftigten innerhalb des Gesundheitssektors wird damit sehr stark in Frage gestellt.
Zeitalter der Mini-Gewerkschaften?
tagesschau.de: Solche spezialisierten Gewerkschaften zeigen sich sehr kämpferisch. Sind sie das Modell für die Zukunft?
Esser: Die kleinen sind bisher nur in wenigen Bereichen erfolgreich: Fluglotsen, Piloten, Ärzte. Die Lokführer versuchen, es ihnen nachzutun, stoßen aber auf wesentlich größere Probleme. Bei der Bahn gibt es bereits zwei konkurrierende größere Gewerkschaften: Transnet und GBDA setzten beide auf die Solidarität zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen, was Bezahlung und Arbeitsbedingungen anbetrifft. Die beiden Gewerkschaften wollen auf keinen Fall zulassen, dass sich da ein kleiner Rosinenpicker etabliert. Wenn bei der Deutschen Bahn alle 25 Berufsgruppen ihre Sondergewerkschaften gründen würden, wäre das für das Unternehmen ein Desaster. Es gäbe unter den Gewerkschaften einen brutalen Kampf um Mitglieder, die Bahn wäre permanent von Streiks bedroht wäre.
Gewerkschaft der Flugsicherung (Fluglotsen): rund 2900 Mitglieder
GDL (Lokomotivführer und Zugbegleiter): rund 30.000 Mitglieder
Vereinigung Cockpit (Piloten): rund 8200 Mitglieder
tagesschau.de: Also kein Zeitalter der Mini-Gewerkschaften?
Esser: Es gibt derzeit beide Entwicklungen: Große Organisationen, die auf Flexibilität setzen, wie IG Metall und IG BCE, und den Trend von kleinen Gruppen, sich abzukoppeln. Sollten zum Beispiel in ein paar Jahren die höheren Angestellten und Ingenieure in der Metall- und Elektroindustrie mit der Tarifpolitik der IG Metall unzufrieden sein, könnte es durchaus sein, dass sie ihre eigene Gewerkschaft gründen. Zum Selbstverständnis der deutschen Gewerkschaften gehört traditionell eine solidarische Komponente – aber das funktioniert nur, so lange alle gewinnen und nicht die einen etwas abgeben müssen. Deshalb kann der Trend zu kleinen Gewerkschaften weitergehen. Aber es könnte auch sein, dass diese langfristig doch keinen Erfolg haben und die Arbeitnehmer unter den schärfer werdenden globalen Wettbewerbsbedingungen ähnliche Erfahrungen machen wie im 19. Jahrhundert und sich deshalb sich wieder zu größeren Organisationen zusammenschließen.
Das Interview führte Fiete Stegers, tagesschau.de