Demografischer Wandel "Der Arbeitsmarkt braucht Frauen und Zuwanderer"
In den kommenden Jahren wird der Arbeitsmarkt um etwa eine halbe Million Menschen jährlich schrumpfen. "Der Rückgang der Erwerbstätigen wird sich in einer Weise vollziehen, die einem Angst machen kann", sagt der Sozialwissenschaftler Hilmar Schneider im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: In den kommenden Jahren werden deutlich mehr Arbeitnehmer in Rente gehen als neue Erwerbstätige nachkommen. Inwieweit wirkt sich dieser demografische Wandel auf den Arbeitsmarkt aus?
Schneider: Das ist ein Problem, was zumindest in einigen Bereichen schon spürbar ist. Aber das ist alles nur die Spitze des Eisbergs. Wir werden in den kommenden zehn Jahren erleben, dass der Rückgang der Erwerbsbevölkerung sich in einer Weise vollzieht, die einem schon Angst machen kann.
Sie müssen sich einfach mal klar machen, dass wir in den nächsten 50 Jahren im Durchschnitt jedes Jahr etwa eine halbe Million Menschen im erwerbsfähigen Alter verlieren. Jedes Jahr. In zehn Jahren sind das fünf Millionen. Das ist gigantisch. Durch Zuwanderung können wir das Problem ein Stück weit auffangen, aber um es komplett auffangen zu können, müssten wir eine Netto-Zuwanderung von 500.000 Menschen pro Jahr in den nächsten 50 Jahren haben. Das kann sich im Moment noch niemand vorstellen.
tagesschau.de: Nun kommt diese Entwicklung ja nicht unerwartet, sondern ist seit vielen Jahren absehbar. Was tun deutsche Unternehmen, um dem entgegenzuwirken?
Schneider: Viele Unternehmen haben das Problem inzwischen erkannt, aber sie haben noch nicht verstanden, was das für sie wirklich bedeutet. Sie fangen jetzt an und verschärfen den Wettbewerb um junge Leute. Aber deswegen wird es noch nicht mehr junge Leute geben, die gut ausgebildet sind, sondern das wird nur dazu führen, dass die Firmen, die sich hier am stärksten anstrengen, am Ende Erfolg haben werden. Aber viele andere Unternehmen werden auf der Strecke bleiben.
Viele Unternehmen agieren nach dem Motto: Probleme werden gelöst, wenn sie da sind. Das Unternehmen wird ja häufig nur am Quartalsergebnis oder an der Jahresbilanz gemessen und da sind für Aktivitäten, die sich erst langfristig rechnen, oft keine Mittel aufzutreiben. Das ist fatal, weil alles, was auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist, in der typischen Bilanzierung von Unternehmen keinen Niederschlag findet. Das ist insbesondere bei börsennotierten Unternehmen so. Und damit laufen wir sehenden Auges in ein Problem, von dem wir alle wissen: Wir müssten es lösen, aber wir tun nichts dafür.
"Den ländlichen Raum trifft diese Entwicklung viel härter"
tagesschau.de: Das betrifft aber sicher nicht nur die DAX-Konzerne.
Schneider: Genau, wobei ein mittelständisches Unternehmen in dieser Hinsicht oft besser aufgestellt ist. Da spielen Überlegungen wie Nachhaltigkeit noch eine Rolle. Aber man muss sich auch klarmachen, dass der demografische Wandel auch eine regionale Dimension hat. Wir können davon ausgehen, dass trotz des dramatischen Rückgangs der Bevölkerung Ballungsräume wie Stuttgart, München oder Köln in Zukunft noch an Bevölkerung gewinnen.
Das bedeutet natürlich, dass im ländlichen Raum die Entwicklung noch sehr viel härter auftritt. Und genau in diesem ländlichen Raum sitzen viele dieser "Hidden Champions", also mittelständische Unternehmen, die oft Weltmarktführer sind mit einem ihrer Produkte. Und die kriegen als erstes zu spüren, dass es schwieriger ist mit der Fachkräfterekrutierung. Denn es ist nicht so einfach, junge Leute zu motivieren, in Regionen zu ziehen, wo vielleicht gerade die Schule geschlossen wurde und wo das Gehalt nicht so ist, wie bei dem starken Großunternehmen in München.
"Frauen, die arbeiten wollen, werden in Deutschland regelrecht bestraft"
tagesschau.de: Sie haben vorhin von möglichen Lösungen gesprochen. Wie könnten diese aussehen?
Schneider: Wir müssen an allen Stellschrauben drehen, die uns zur Verfügung stehen. Mit mehr Zuwanderung kann man schon eine Menge erreichen. Es ist aber auch eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Viele Frauen sind hochqualifiziert und wären auch bereit, mehr zu tun. Da hapert es häufig an der fehlenden Betreuungsinfrastruktur: Kindertagesstätten und Schulen sind häufig nicht darauf eingerichtet, dass die Eltern der Kinder berufstätig sind. Und in der Regel geht das zu Lasten der Mütter.
Außerdem: In Deutschland werden Frauen regelrecht dafür bestraft, wenn sie sich stärker auf dem Arbeitsmarkt einbringen wollen. Wir haben über das Ehegattensplitting, die Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse und das Minijob-Privileg Instrumente geschaffen, die es unattraktiv machen, über den 450-Euro-Job hinaus einer Erwerbstätigkeit nachzugehen: Sobald man einen Euro darüber hinaus verdient, hat man weniger netto in der Tasche als vorher. Und das sind Fehlanreize, die gehören schlicht und ergreifend abgeschafft.
Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit der Arbeitszeitverlängerung. Wir werden gar nicht darum herumkommen, dass wir in Zukunft mehr und länger arbeiten müssen - wobei ich von Arbeitszeitverlängerung bei vollem Lohnausgleich spreche. Wenn die Leute statt 35 Stunden in der Woche 40 Stunden in der Woche arbeiten müssen, weil wir so einen Teil des Bevölkerungsrückgangs auffangen, dann sollen sie dafür natürlich auch entsprechend bezahlt werden.
Das Gespräch führte Jan Ehlert, tagesschau.de