Interview

Konjunkturforscher zum überraschenden Boom 2010 "Besser aufgestellt als die europäische Konkurrenz"

Stand: 12.01.2011 09:11 Uhr

Die gute Konjunktur im vergangenen Jahr hat die Wirtschaftsforscher überrascht. Anfangs sagten sie 1,5 Prozent Wachstum voraus, jetzt sind es sogar 3,6 Prozent. Deutschland kam besser aus der Krise als viele andere Staaten. IfW-Forscher Scheide erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, warum das so ist.

tagesschau.de: Gut zwei Prozent lagen die Institute mit ihrer Voraussage für 2010 daneben. Was ist denn über das Jahr so überraschendes passiert?

Joachim Scheide: Zum einen hat sich die Weltkonjunktur schneller erholt als erwartet. Das Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern, vor allem in Asien, hat nach der Krise sehr stark angezogen. Diese Länder haben sehr viele deutsche Produkte nachgefragt und unsere Exporte beflügelt.

Zum anderen waren die Zinsen für Deutschland relativ günstig. Die Europäische Zentralbank hat die Zinsen sehr niedrig gehalten, weil sie den Zinssatz der Situation im gesamten Euroraum anpasst und da viele Länder große Probleme hatten. Das hat dann die deutsche Binnenkonjunktur kräftig angekurbelt.

Joachim Scheide, Institut für Weltwirtschaft
Zur Person
Prof. Dr. Joachim Scheide ist Institutsleiter an einem der fünf wichtigsten deutschen Wirtschaftsforschungseinrichtungen, dem Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Zusammen mit den anderen Einrichtungen erstellt das IfW regelmäßig Vorhersagen für die Wirtschaftsentwicklung. Scheide leitet seit 2005 das Prognose-Zentrum.

tagesschau.de: Andere Industrienationen haben doch auch Produkte, die im Ausland gefragt sind. Warum konnte gerade Deutschland besonders profitieren?

Scheide: Die deutschen Exporte waren im Krisenjahr 2009 sehr stark eingebrochen, entsprechend ging es 2010 wieder nach oben.

Wir haben aber auch davon profitiert, dass Deutschland  in den Schwellenländern, vor allem in Asien, besser aufgestellt ist als viele andere europäische Staaten. Unsere Präsenz zum Beispiel in Indien oder in China ist drei- oder viermal stärker als die der Konkurrenten, sagen wir Italien oder Frankreich. Insgesamt haben in Deutschland vor allem der Maschinenbau und der Anlagenbau profitiert, aber auch die PKW-Produktion. In China zum Beispiel stieg die Nachfrage nach Luxuswagen rasant an.

tagesschau.de: Auch bei den Arbeitslosenzahlen war die Entwicklung besser als angenommen. Warum?

Scheide: Entscheidend war der gute Konjunkturverlauf. Des weiteren wird die Situation nach wie vor positiv durch die Arbeitsmarktreformen beeinflusst. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist relativ flexibel. Dadurch ist er vergleichsweise robust durch die Krise gegangen. In anderen Ländern hat sich die Arbeitslosigkeit verdoppelt. In Deutschland hat sie sich nur sehr wenig erhöht. Und als der Aufschwung einsetzte, nahm die Beschäftigung recht schnell wieder zu.

tagesschau.de: Das Kurzarbeitergeld wurde oft als wichtige Maßnahme zur Bewältigung der Krise gelobt. War es denn rückblickend ein entscheidender Faktor?

Scheide: Das war sicherlich ein wichtiger Faktor, aber ich glaube nicht der entscheidende. Die Entwicklung der Kurzarbeit war auch gar nicht so sensationell im Vergleich zu früheren Rezessionen. Sie hat aber sicherlich den Abschwung gemildert.

tagesschau.de: Was hat die Nachfrage im Inland getrieben?

Scheide: Der Konsum ist 2010 erstmals seit langem wieder gestiegen, ebenso die Investitionen der Unternehmen. Die Ertragsaussichten waren sehr günstig, auch wegen des Exportgeschäfts. Die Bauinvestitionen entwickelten sich wie erwartet. Es war klar, dass sie von den Konjunkturprogrammen angetrieben werden würden.

tagesschau.de: Spielte auch die Psychologie beim Konsumverhalten der Deutschen eine Rolle?

Scheide: Dass die Jobaussichten besser und die Arbeitsplätze sicherer geworden sind hat wohl dazu geführt, dass nicht mehr so viel gespart wurde, wie man hätte erwarten können.

tagesschau.de: Was hat Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern in der Krise richtig gemacht?

Scheide: Zum einen - das hat allerdings nichts mit der Politik zu tun - ist uns eine hausgemachte Immobilienpreisblase erspart geblieben. Anders in Spanien, Irland, den USA oder Großbritannien: Dort wird die Inlandsnachfrage durch die Krise sicher noch über längere Zeit gedämpft. Deutschland war zwar durch die Geschäfte der Banken auch involviert, aber das hat uns in der Konjunktur nicht nachhaltig zurückgeworfen.

Zum anderen war die Lage der öffentlichen Haushalte günstiger als in vielen anderen Staaten. Manche haben jetzt mit Budgetdefiziten zu kämpfen, die fast zweistellig sind in der Relation zum Bruttoinlandsprodukt.

In Deutschland hat sich die Lage auch verschlechtert, aber nicht so dramatisch. Unser Haushalt muss konsolidiert werden, aber andere Länder müssen sehr viel drastischer sparen. Deutschland kann vergleichsweise gelassen bleiben, weil wir am Anfang der Rezession einen annähernd ausgeglichenen Haushalt hatten. Andere verzeichneten da bereits hohe Defizite.

tagesschau.de: Besteht die Gefahr, dass 2011 der Aufschwung abgewürgt wird, wenn Konjunkturprogramme auslaufen und die Bundesregierung mehr spart?

Scheide: Von abwürgen würde ich auf keinen Fall sprechen. Die Konjunktur wird so oder so langsamer verlaufen als im vergangenen Jahr, auch weil die Exportdynamik nachlassen dürfte. Wir haben bereits sehr viel aufgeholt nach derm Einbruch zuvor, und es wird etwas langsamer voran gehen.

Die Sparbeschlüsse der Bundesregierung haben überhaupt nicht dazu geführt, dass die Stimmung in der Wirtschaft gekippt ist. Im Gegenteil, vielleicht ist die Wirtschaft sogar besonders optimistisch, weil sie sieht, dass man in Deutschland etwas gegen die hohe Staatsverschuldung tut.  Wir rechnen damit, dass die Investitionen der Unternehmen und der Konsum wichtige Stützen der Konjunktur sein werden.

tagesschau.de: Viele Gewerkschaften fordern für 2011 wieder deutliche Lohnzuwächse. Wird das den Konsum ankurbeln oder die Unternehmen zu sehr belasten?

Scheide: Wahrscheinlich werden die Lohnabschlüsse nicht exorbitant hoch sein. Ich glaube nicht, dass sie zu großen Gewinneinbußen bei den Unternehmen führen werden. Es ist aber nicht sinnvoll, flächendeckend die Löhne gleichmäßig anzuheben, weil einige Firmen die Krise noch nicht so richtig überwunden haben.

tagesschau.de: Was für ein duchschnittliches Lohnplus wäre aus Ihrer Sicht verträglich?

Scheide: In der Nähe von 2 bis 2,5 Prozent.

Das Interview führte Jörg Endriss, tagesschau.de