Interview mit Arbeitsrechtler Eduard Picker "Die Bahn ist der GDL hilflos ausgeliefert"
Der Streik der Lokführergewerkschaft GDL richtet sich mindestens so sehr gegen die beiden Konkurrenzgewerkschaften wie gegen die Bahn, sagt Arbeitsrechtler Picker im tagesschau.de-Interview. Die Bahn selbst sei der GDL praktisch "hilflos ausgeliefert".
Der Streik der Lokführergewerkschaft GDL richtet sich mindestens so sehr gegen die beiden Konkurrenzgewerkschaften wie gegen die Bahn, sagt Arbeitsrechtler Picker im tagesschau.de-Interview. Die Bahn selbst sei der GDL praktisch "hilflos ausgeliefert", weil sie kein wirksames Mittel gegen die Streiks habe.
tagesschau.de: Welche Auswirkungen hat es denn, wenn in einer Branche gleich drei Gewerkschaften einem Arbeitgeber gegenübersitzen?
Eduard Picker: Bei der Bahn haben wir den Fall, dass Transnet und GDBA eine 4,5-prozentige Lohnerhöhung herausgehandelt hat, die Gewerkschaft der Lokomotivführer aber weiterhin bis zu 31 Prozent mehr Lohn fordert. Nun stellt sicht die Frage, ob der Kampf der GDL weiter zulässig ist. Man kann mit dem Prinzip der Tarifeinheit argumentieren – ein Prinzip, das das Bundesarbeitsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung hochhält. Dann dürfte in einem Unternehmen nur ein Tarifvertrag gelten. Und dann wäre es fraglich, ob die Lokführer überhaupt streiken dürften. Ich bezweifle aber, dass man dieses Prinzip auf ein Unternehmen wie die Deutsche Bahn beziehen kann. Denn die Unterschiede zwischen den einzelnen Berufsbildern im Unternehmen sind eigentlich viel zu groß.
tagesschau.de: Wenn die GDL nun einen höheren Tarif für die Lokführer rausholt, wie viel Geld bekommt dann ein Lokführer, der bei Transnet oder überhaupt nicht organisiert ist?
Picker: Das Bundesarbeitsgericht verfährt in der Regel so, dass der speziellere Tarif gilt – das wäre für die Lokführer wohl der, den die GDL ausgehandelt hat. Aber es gäbe auch die Möglichkeit, dass das Gericht sagt, es gilt der Tarifvertrag, der die größere Zahl der Arbeitgeber vertritt. Das wäre in diesem Fall der, den Transnet ausgehandelt hätte.
"Die Gefahr für die großen Gewerkschaften ist riesig"
tagesschau.de: Ist denn das Prinzip "Ein Betrieb – ein Tarif“ heutzutage überhaupt noch sinnvoll?
Picker: Ich halte gar nichts davon. Im Gegenteil, ich halte den neuen Trend zur Aufspaltung der Gewerkschaften durchaus für sinnvoll. Wenn die Gewerkschaften dem Marktprinzip folgen, das heißt, wenn sich möglichst viele unterschiedliche Gewerkschaften bilden, belebt das das Geschäft. Die großen Kolosse, wie zum Beispiel ver.di, könnten dann nicht mehr schalten und walten, wie sie wollen.
tagesschau.de: Und was wird dann aus den großen Gewerkschaften?
Picker: Der Trend ist eine riesige Gefahr für die großen Gewerkschaften. Dieser Streik bei der Bahn ist mindesten so sehr gegen die Partnergewerkschaften gerichtet wie gegen den Arbeitgeber. Bahnchef Hartmut Mehdorn wird das einerseits mit einer gewissen Genugtuung sehen, andererseits natürlich auch mit Sorgen.
"Eine massive Aufweichung der Solidarität"
tagesschau.de. Bleiben wir zunächst bei den Arbeitnehmern. Welche Auswirkungen könnte der Trend denn in der Praxis haben?
Picker: Lassen Sie uns kurz annehmen, die GDL hätte für die Lokführer als erstes 31 Prozent ausgehandelt, während Transnet und GDBA noch weiter verhandeln. Dann wäre für die Arbeitnehmer, die in den beiden zuletzt genannten Gewerkschaften organisiert sind, einfach weniger Geld übrig, um die Löhne zu erhöhen. Mit den neuen Funktionseliten und deren Gewerkschaften haben wir also ein ganz neues Phänomen: Ihr Streik richtet sich auch gegen ihre eigenen Leute, also auch gegen die anderen Arbeitnehmer. Wir beobachten hier also eine massive Aufweichung der Solidarität.
"Arbeitgeber sind hilflos ausgeliefert"
tagesschau.de: Und wie sehen die Konsequenzen für die Arbeitgeber aus?
Picker: Die Arbeitgeber, in diesem Fall die Bahn, sind diesen Funktionseliten praktisch hilflos ausgeliefert, weil es sich um Arbeitnehmer handelt, die wie im Fall der Lokomotivführer oder der Piloten vor einigen Jahren, ein Unternehmen faktisch stilllegen können. Das verstößt aber gegen das Prinzip der Parität: Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich in Tarifverhandlungen auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Deshalb sind Streiks für die Arbeitnehmer und Aussperrungen für die Arbeitgeber zugelassen. Aber das Prinzip der Aussperrung funktioniert im Bahnstreik nicht. Es funktionierte auch bei den Piloten nicht. Wenn man das zu Ende denkt, könnten die Lokführer auch 57 Prozent mehr fordern und das theoretisch auch durchsetzen, weil die Arbeitgeber kein Mittel dagegen haben. Und es ist auch keins in Sicht.
Eduard Picker lehrt an der Universität Tübingen Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht. Er ist Mitherausgeber der "Zeitschrift für Arbeitsrecht".
tagesschau.de: Was haben die großen Gewerkschaften, insbesondere ver.di falsch gemacht?
Picker: Ich möchte mir kein Urteil über ver.di anmaßen. Aber: Eine große Gewerkschaft wird auf die Dauer nicht umhinkommen, die Bedürfnisse besonders qualifizierter Leute ernst zu nehmen und denen auch die Möglichkeit zu geben, eigene Tarifverträge abzuschließen. Die Funktionseliten sprengen das alte System.
Das Interview führte Sabine Klein, tagesschau.de