Interview mit Wirtschaftsethiker "Wir steuern auf eine gespaltene Gesellschaft zu"
Innovation lautet das Zauberwort - Innovation soll die deutsche Wirtschaft ankurbeln. Der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann von der Universität St. Gallen ist allerdings skeptisch. Die ökonomischen Grenzen des Wachstums seien erreicht, sagt er im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Herr Thielemann, die Bundesregierung setzt stark auf die Förderung innovativer Branchen. Können Zukunftstechnologien Deutschlands wirtschaftliche Probleme lösen?
Ulrich Thielemann: Ich bin äußerst skeptisch, ob reife Volkswirtschaften wieder auf einen Wachstumspfad gelangen können, wie wir ihn in den 50er und 60er Jahren kannten. Es gibt seitdem eine graduelle Verlangsamung des Wachstums - und ich bezweifle, ob neue Industrien helfen können, es wieder nennenswert anzukurbeln. Wenn aber etwas helfen kann, ist es die Industrie - und nicht der Dienstleistungssektor.
Ulrich Thielemann (geboren 1961 in Remscheid) ist Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Thielemann formulierte mit seiner Promotion 1996 "Das Prinzip Markt" eine Kritik des Ökonomismus und habilitiert jetzt zum Thema "Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept".
Rückkehr in fast neofeudale Strukturen
tagesschau.de: Nun gehen viele Analysten davon aus, dass Deutschland in Zukunft mehr und mehr zum High-Tech-Standort wird und damit Arbeitsplätze in der Industrie verloren gehen. Kann der boomende Dienstleistungssektor das auffangen?
Thielemann: Man könnte natürlich eine Vollbeschäftigung erreichen, wenn man für alle derzeit Arbeitslosen Ein-Euro-Jobs einrichtet - etwa im Bereich personenbezogener Dienste. Aber dies kann kaum als eine faire Lösung des Problems der ökonomischen Grenzen des Wachstums angesehen werden, mit dem wir uns wohl einrichten müssen. Diese Grenzen ergeben sich daraus, dass sich die Wirtschaft immer stärker zu einer Dienstleistungswirtschaft entwickelt. Offenbar besteht aber irgendwann kein zusätzlicher Bedarf an industriellen Massengütern wie zum Beispiel Autos.
Je mehr eine Wirtschaft zur Dienstleistungswirtschaft wird, desto geringer sind ihre Potenziale für Wachstum. Denn Dienstleistungen bieten den Beteiligten nur geringe Tauschvorteile. Ein Parkplatzwächter kann sich keine Hausangestellte leisten - und die Hausangestellte hätte vermutlich lieber einen billigeren Parkplatz, der nicht bewacht wird. Es lohnt sich also für beide Seiten nicht.
tagesschau.de: Nun werden personenbezogene Dienstleistungen aber doch oft als Allheilmittel gepriesen?
Thielemann: Da sich einfache Dienstleistungen nur in sehr beschränktem Maße wechselseitig lohnen, würde diese nur von wohlhabenden Kreisen nachgefragt. Zugespitzt: Man entlässt zunächst die Leute aus der industriellen Produktion und stellt sie dann als Anbieter von "personal services" preisgünstig an. Dies ist allerdings eine Blaupause für die Rückkehr in eine beinahe neofeudalistische Zeit, in der sich wohlhabende Kreise Hausangestellte leisten. Ihr entspräche eine gespaltene Gesellschaft. Das ist aber ganz sicher kein Modell, das dem Leitbild "Wohlstand für alle" verpflichtet ist.
Man muss zunächst einmal ehrlich sein
tagesschau.de: Eine Gesellschaft, die in der Politik sicher niemand will. Was müsste oder könnte die Politik tun, um diesen Trend aufzuhalten, möglicherweise sogar umzukehren?
Thielemann: Zunächst einmal muss sich die Politik ehrlich klar machen, wie die Situation ist. Und die ist meiner Meinung nach mit dem Begriff der ökonomischen Grenzen des Wachstums zu beschreiben. Jetzt könnte man als Gegenbeispiel die USA anführen: Die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten ist in den vergangenen Jahren zwar nicht unerheblich gewachsen - aber das kommt fast ausschließlich dem äußerst kleinen Personenkreis der "super rich" zu Gute. Der durchschnittliche reale Stundenlohn - die Menschen arbeiten heute länger - ist in den USA dagegen heute geringer als Mitte der 70er Jahre. Die Frage, die man sich hier stellen muss ist, ob wir eine solche Entwicklung wollen und ob eine solche Entwicklung fair ist.
Ein Lösungsansatz könnte die derzeit diskutierte Frage eines unbedingten Grundeinkommens sein. Denn das wäre genau das Gegenteil von Hartz IV: Das Einkommen würde gesteigert, die Leute hätten dann ein gewisses Polster, damit sie keine demütigenden Beschäftigungen annehmen müssen. In jedem Fall sollte man aber nicht so tun, als ob es nur um die technische Frage ginge, wie erreicht werden kann, dass Menschen irgendeine bezahlte Beschäftigung haben - ganz gleich wie hoch der Lohn ist und um was für eine Arbeit es sich handelt.
"Wohlstand für alle" meint faire Chancen
tagesschau.de: Vor allem Niedrigqualifizierte haben es schwer, Arbeit zu finden. Sind die Anstrengungen in der Bildungspolitik ausreichend?
Thielemann: Das Bildungs- und Qualifikationsniveau in Deutschland ist im Vergleich zu den 70er Jahren, dem Beginn wachsender Arbeitslosigkeit breiter Bevölkerungskreise, wahrscheinlich gar nicht so viel schlechter. Im Unterschied zu heute hat man damals diejenigen, die über eher niedrige Qualifikationen verfügten, trotzdem anständig beschäftigt. Weil man sie brauchte und weil die Globalisierung noch nicht so weit fortgeschritten war. Aber wohl auch, weil man ihnen eine faire Chance geben wollte. Das ist heute nicht mehr der Fall - und deswegen ist der Unmut dieser Leute hoch.
Wenn man einmal vom Grenzwert einer reinen Marktwirtschaft ausgeht, in der jeder das bekommt, was er durchzusetzen in der Lage ist, würde man wahrscheinlich feststellen, dass diese Menschen in der Vergangenheit "zu gut" bezahlt wurden. Eine aus der Sicht des reinen Marktes "zu gute" Bezahlung ist allerdings ein wichtiger Bestandteil einer sozialen Marktwirtschaft. Genau davon rückt man heute ab.
Gesellschaft am Scheideweg
Wir stehen an einem Scheideweg: Wollen wir, wie die USA, den Weg einschlagen hin zu einer gespaltenen Wirtschaft? Oder wollen wir am Leitbild "Wohlstand für alle" festhalten? Wohlstand für alle heißt natürlich nicht Umverteilung für alle, sondern faire Chancen für alle. Die Initiative für "Innovation und Wachstum" kann die Spaltung durchaus hinauszögern. Man sollte sich aber keinen Illusionen hingeben. Die ökonomischen Grenzen des Wachstums dürften uns früher oder später einholen.
Das Gespräch führte Jan Oltmanns, tagesschau.de