Interview

Arbeitsmarktexpertin im Interview "Warum sollen Postdienstleister subventioniert werden?"

Stand: 05.12.2007 15:49 Uhr

Vollzeit arbeiten und trotzdem Hartz IV brauchen: Wer - wie manch ein Briefzusteller - nur um die fünf Euro pro Stunde verdient, kann davon nicht leben. Der Staat subventioniert damit private Postdienstleister. Das darf die Politik nicht zulassen, sagt Arbeitsmarktexpertin Solga im tagesschau.de-Interview.

Beschäftigte arbeiten Vollzeit und brauchen trotzdem Hartz IV. Denn wer - wie manche Briefzusteller - nur um die fünf Euro pro Stunde verdient, kann davon nicht leben. Der Staat subventioniert so private Postdienstleister, das darf die Politik nicht zulassen, sagt Arbeitsmarktexpertin Heike Solga.

tagesschau.de: Im Moment wird heftig über den Mindestlohn für Briefzusteller diskutiert. Damit rückt auch ein flächendeckender Mindestlohn wieder in den Vordergrund. Was würden Sie den Politikern raten?

Heike Solga: Mit zunehmender Aufweichung von Flächentarifverträgen sowie mit der EU-Erweiterung besteht ein neuer Regelungsbedarf für den Arbeitsmarkt. Wenn die bisherigen Regulierungsmaßnahmen nicht mehr greifen, bedarf es einfach einer neuen Untergrenze für Löhne in bestimmten Branchen.

tagesschau.de: Für welche Branchen sollte es einen Mindestlohn geben?

Solga: In allen Branchen, in denen die Löhne und Gehälter nicht mehr über Flächentarifverträge klar geregelt sind.

Zur Person

Heike Solga ist Professorin für Soziologie an der Universität Göttingen und kommissarische Leiterin der Abteilung "Ausbildung und Arbeitsmarkt" am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB). An der Universität Göttingen leitet sie zudem das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut (SOFI).

tagesschau.de: Die Koalition diskutiert seit langem über einen flächendeckenden Mindestlohn von 7,50 Euro. Ist das zu niedrig?

Solga: In Deutschland gibt es das Phänomen Armut trotz Erwerbstätigkeit. Arbeitnehmer verdienen nicht genug, um davon leben zu können. Sie müssen über Steuergelder mit Sozialhilfe bzw. Hartz IV zusätzlich finanziert werden. Wenn Menschen Vollzeit arbeiten gehen, dann müssen sie einfach einen Lohn nach Hause bringen, von dem sie leben können. Die Idee des Mindestlohns ist, dass eine Person, die arbeitet, nicht in Sozialhilfe fällt. 7,50 Euro wäre also ein niedriger Mindestlohn. Viele Leute fragen sich zum Beispiel, ob sie für dieses Geld überhaupt arbeiten gehen sollen. Gleichzeitig beklagen sich die Unternehmen über zu hohe Löhne. Das ist eine Diskrepanz.

tagesschau.de: Die Briefzusteller sollen zwischen 8,00 und 9,80 Euro verdienen. Das sei zu hoch, beklagen sich die Firmen. Zu Recht?

Solga: Bei der Höhe des Mindestlohns müssen auch die Arbeitsbedingungen berücksichtigt werden. Ein selten beachtetes Detail bei Zustellern ist der hohe Verschleiß an Arbeitskleidung wie zum Beispiel Schuhen: Die verbeamteten Postboten haben früher Schuhgeld bekommen. Das gibt es heute für die Angestellten nicht mehr, sie müssen das selbst finanzieren. Über die Höhe des Lohns wird also ein Stück weit auch der Verschleiß von Arbeitsmitteln bezahlt. In bestimmten Branchen muss demnach ein gesetzlicher Mindestlohn höher sein.

tagesschau.de: Die privaten Postdienstleister halten die Lohn-Untergrenze für deutlich zu hoch und drohen nun mit Massenkündigungen. Können Sie das verstehen?

Solga: Wenn wir gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen wollen, bedarf es eines Mindestlohns. Ein Beispiel ist der öffentliche Nahverkehr: Angestellten Busfahrern bei Stadt, Kommune oder Land stehen die privaten Busunternehmen gegenüber, die sich nicht an den Tarifvertrag halten müssen. Die öffentlich Beschäftigen werden immer stärker abgebaut, weil sie in der Konkurrenz zu den Privatunternehmen, die niedrigere Löhne zahlen, nicht überleben können. Das ist jetzt auch bei der Post der Fall. Dort wird massiv abgebaut und gleichzeitig gibt es immer mehr private Anbieter. Wir brauchen daher einen Mindestlohn, damit sich Unternehmen im Wettbewerb halten können und um bestimmte Löhne zu garantieren. So können ungleiche Konkurrenzbedingungen verhindert werden.

tagesschau.de: Sie glauben also nicht, dass - wie angedroht - bis zu 20.000 Stellen bei privaten Postdienstleistern verloren gehen könnten?

Solga: Es hängt immer auch von der Auftragslage ab. Wenn die Firmen nach den Entlassungen nicht in der Lage sind, ihre Aufträge zu erfüllen, dann können sie gar nicht so viele Menschen entlassen, auch wenn sie mehr zahlen müssen. Oder sie müssten dann wieder neue Mitarbeiter einstellen.

tagesschau.de: Handelt es sich demnach nur um eine Drohgebärde gegenüber der Politik?

Solga: Man muss sich fragen, was ohne einen Mindestlohn passieren würde. Wenn Arbeitnehmer für zwei bis vier Euro Vollzeit arbeiten gehen und um zu überleben, Hartz IV brauchen, wäre das eine Subventionierung der Branche in großem Stil. Warum sollten private Postdienstleister mit Steuergeldern subventioniert werden? Müsste man da nicht eher Kindergärten und Bibliotheken unterstützen? Wenn die Beschäftigten dagegen Vollzeit arbeiten und einen Mindestlohn verdienen, dann sind sie auch sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie haben eine andere Absicherung und unterstützen gleichzeitig die Gesellschaft.

tagesschau.de: Wie sollte die Politik jetzt reagieren?

Solga: Es sollte eine klare Entscheidung für einen Mindestlohn geben. Die Politik ist sich bislang noch nicht darüber einig, ob sie einen flächendeckenden Mindestlohn will oder nicht. Ich würde es befürworten. Über eine Untergrenze könnte man dann weiter diskutieren und die Kriterien definieren, ob und warum der Lohn zu niedrig oder zu hoch ist. Dann könnte man zu einer besseren Verständigung kommen.

Das Interview führte Anna Grabenströer, tagesschau.de.