Experte erklärt Markt-Unsicherheit "Die Politiker wurschteln sich durch"
In der EU-Politik fehlt eine klare Linie. Und die Politiker berücksichtigen zu wenig, dass jedes ihrer Worte momentan auf die Goldwaage gelegt wird. Das kritisiert Finanzexperte Kressin im Gespräch mit tagesschau.de. Die Folge der fehlenden Absprachen: Die Aktienmärkte reagieren mit immer stärkeren Ausschlägen.
tagesschau.de: Was beeinflusst die Märkte - wirklich nur die harten Fakten, also Wirtschaftsdaten und Konjunkturprognosen?
Thomas Kressin: So sollte es sein, aber leider ist das überhaupt nicht mehr der Fall. Normalerweise werden Investitionsentscheidungen sowohl in der Realwirtschaft als auch in der Finanzwelt auf Grundlage von Wirtschaftsdaten getroffen - in Abwägung zwischen potenziellem Risiko und potenziellem Ertrag. In den letzten Monaten - und eigentlich schon seit Ausbruch der europäischen Schuldenkrise vor zwei Jahren - müssen wir Investoren uns aber zunehmend mit politischen Risiken auseinandersetzen, die für uns sehr schwer einschätzbar und vorhersehbar sind. Wir sehen schon lange keine klare Linie mehr in der EU-Politik.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt, wer in der Politik zu welchem Zeitpunkt etwas sagt ?
Kressin: Es gibt sehr deutliche Mechanismen. Wir haben es in der Eurozone eben nicht mit einheitlichen Äußerungen zu tun - sondern ganz im Gegenteil: Die Eurozone spricht zu oft mit 17 verschiedenen Stimmen - und dann hört man noch - wie dieser Tage aus Deutschland - aus einer Regierungskoalition unterschiedliche Statements. Das trägt immens zur Verunsicherung bei - gerade, weil Deutschland ein Schwergewicht in der Eurozone ist.
Die Politiker unterschätzen die Tragweite ihrer Äußerungen
tagesschau.de: Handeln die Politiker verantwortungslos?
Kressin: Die politischen Entscheidungsträger unterschätzen, mit welcher Aufmerksamkeit ihre Äußerungen an den Märkten aufgenommen und analysiert werden. Die Politiker, die sich immer auch an ihre Wählergruppen wenden, sind sich dieser Verantwortung und der Tragweite ihrer Äußerungen nicht bewusst.
Wir befinden uns derzeit in einer Situation, wo jedes Wort eines einflussreichen Politikers von den Marktakteuren auf die Goldwaage gelegt wird. Wir brauchen von der EU klare Weichenstellungen, wohin die Reise geht. Derzeit erleben wir das Gegenteil: Entscheidungen werden getroffen und auf den EU-Gipfeltreffen verkündet - und dann wieder relativiert oder zurückgenommen. Das schafft große Unsicherheit.
tagesschau.de: Kanzlerin Merkel hat neulich versucht, im Schulterschluss mit dem französischen Präsidenten Hollande wieder Vertrauen herzustellen, indem sie bekräftigte, man werde alles tun, um den Euro zu retten. Warum hat dies die Märkte nicht beruhigen können?
Kressin: Wir sind viel zu tief in der Krise, als dass einzelne Willensbekundungen die Situation nachhaltig beruhigen könnten. Es müssen Taten folgen. Wir brauchen klare Entscheidungen, wohin sich die EU entwickeln soll. Wir brauchen einen Fahrplan für die kommenden Jahre in Richtung Fiskal- und politischer Union, welche die Währungsunion unterfüttern kann. Allen ist doch längst klar, dass die Währungsunion nicht funktioniert, weil sie nicht von einer politische Einigung und Fiskalunion begleitet wurde. Das muss nachgeholt werden, wenn die Eurozone als Ganzes fortbestehen soll.
Auf Dauer helfen keine Rettungspakete und auch keine Beschwörungsformeln. Wir brauchen klare politische Konzepte, wie das politische und wirtschaftliche Konstrukt Europa in Zukunft aussehen soll. Und dann sollten die Bundesbürger darüber abstimmen können, ob sie diesen Weg einschlagen wollen. Derzeit erleben wir aber das Gegenteil: Entscheidungen werden vertagt. Die Politiker Europas wurschteln sich so durch. Für die Märkte ist dieser Eindruck fatal.
Die Unsicherheit an den Märkten ist gigantisch groß
tagesschau.de: EZB-Chef Draghi sagte, die EZB werde alles tun, um den Euro zu stützen und Krisenländern zu helfen. Die Börsen schickte dies auf Achterbahnfahrt - je nachdem wie Draghis Worte ausgelegt wurden, gab es starke Ausschläge nach oben und nach unten. Wie ist das zu erklären?
Kressin: Wir sehen daran, dass die Unsicherheit bei Politik und Märkten mittlerweile gigantisch groß ist. Und so wird jedes Wort von Draghi auseinandergenommen und analysiert. Die Investoren - gerade die von Rentenkassen und Versicherungen - suchen einen sicheren Hafen für ihr Geld. Im Fall von Griechenland mussten diese Investoren erleben, dass Geld real verloren gegangen ist. Das hat zu einer Vertrauenskrise in der Eurozone geführt - mit der Angst, dass dies auch in anderen Euro-Ländern der Fall sein könnte.
tagesschau.de: Also ist die Schuldenkrise auch und vor allem eine politische Vertrauenskrise?
Kressin: Unser ganzes Wirtschafts- und Finanzsystem basiert auf Vertrauen. In der Politik wird unterschätzt, wie wichtig dieses Vertrauen ist. In den letzten zwei Jahren ging dieses Vertrauen weitgehend verloren. Dieses verloren gegangene Vertrauen wieder herzustellen, ist eine immens schwere Aufgabe.
tagesschau.de: Nicht nur bei den Aktienwerten geht es rauf und runter - auch die Renditen für europäische Staatsanleihen sind starken Schwankungen unterworfen. Warum?
Kressin: Wir befinden uns seit ungefähr drei Jahren in einem Paradigmenwechsel. Staatsanleihen europäischer Staaten galten immer als sehr sichere Anlage für konservativ orientierte Investoren wie Pensionskassen und Lebensversicherer. Diese Gewissheit existiert nicht mehr - was sich in großen Risikoaufschlägen und immens hohen Zinssätzen widerspiegelt.
tagesschau.de: Viele Politiker beklagen, dass die Märkte die Politik vor sich hertreiben. Was sagen Sie dazu?
Kressin: Wir langfristigen und konservativen Investoren haben es damit zu tun, dass eine Anlage, die als absolut sicher galt - nämlich die Staatsanleihen - auf einmal mit großen Risiken behaftet ist. Wird die Währungsunion, in der wir uns derzeit befinden, in drei Jahren überhaupt noch existieren? Wird die Anleihe mit einer Laufzeit von beispielsweise fünf Jahren noch in Euro zurückgezahlt oder in einer ganz anderen Währung? Diese Unsicherheit ist fatal für die Märkte.
tagesschau.de: Welchen Einfluss haben die Spekulanten bei den derzeitigen Schwankungen an den Börsen?
Kressin: Zumindest bei den Anleihemärkten sind die Spekulanten in der absoluten Minderheit. Die überwältigende Mehrheit handelt nicht spekulativ, sondern verantwortungsvoll im Sinne derer, deren Gelder sie verwalten: Pensionäre und Versicherte. Der Vorwurf, die Märkte agierten spekulativ, ist zu kurz gedacht und nicht zu halten.
Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.