Textilbranche in der Krise "Mode ist verderbliche Ware"
Die Modebranche leidet schwer im Lockdown. Der Geschäftsinhaber und Präsident des Handelsverbands Hessen, Jochen Ruths, erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, warum viel Bekleidung wohl im Reißwolf landen wird.
tagesschau.de: Herr Ruths, Sie führen in vierter Generation ein Bekleidungsgeschäft in Friedberg. Sie sind gerade in Ihrem Laden. Was machen Sie denn? Die Geschäfte sind ja alle zu?
Jochen Ruths: Wir haben trotzdem alle Hände voll zu tun. Zum einen verkaufen wir noch ein bisschen was über diverse Online-Plattformen. Zum anderen haben wir den Umbruch Winterware auf Frühjahrsware vor der Tür. Da muss ich jetzt gucken, denn unsere Wintermode ist ja kaum abverkauft worden. Ich mache Inventur, nehme jedes einzelne Teil in die Hand und überlege mir: Können wir das noch mal im nächsten Herbst mit leichtem Preisabstand verkaufen? Der Parka in Grün, der sieht nächstes Jahr genauso wieder aus, den kann man dann mit einem guten Gewissen in einen zweiten Lauf geben. Aber grundsätzlich gilt: Mode ist verderbliche Ware, wie wir in der Branche sagen.
tagesschau.de: Verderbliche Ware, da denkt man eher an Sahne und Gemüse. Was versteht Ihre Branche darunter?
Ruths: In der Textilbranche haben wir zwei große Saisons pro Jahr und darüber hinaus permanenten Wareneingang. Es gibt ganze Kollektionen, die darauf bauen, einen hochmodischen Anspruch zu haben und Trends zu setzen. Konkret sind in diesem Jahr die Farben Safran und Gelb angesagt gewesen. Das kann uns im nächsten Herbst um die Ohren fliegen. Dann gibt es noch die Einzelstücke, die "Bunten Hunde", also Kleidungsstücke, die so besonders in Farbe, Schnitt und Stoff sind, dass Kunden die Ware nächstes Jahr wiedererkennen würden.
Wie alle Modegeschäfte hat auch Ruths Laden im hessischen Friedberg seit Mitte Dezember geschlossen.
Viel bezahlte Ware lässt sich nicht mehr verkaufen
tagesschau.de: Derzeit haben Sie noch die Herbst-Winterkollektion hängen. Was machen Sie mit all den dicken Pullis, Winterjacken und Hosen?
Ruths: Die Kollektion wird im Modehandel bis Ende Februar auf Frühjahrs- und Sommermode umgestellt. In normalen Jahren haben wir bis dahin gut verkauft, und es sollten höchstens noch rund 20 Prozent der Ware übrig sein. Zehn Prozent lagern wir ein, zehn Prozent kann ich üblicherweise nach Absprache an meine Vorlieferanten retournieren. Aber dieses Jahr sind wir vielleicht bei 50 Prozent Abverkauf. Da ist natürlich viel, viel Ware übrig, die bezahlt ist, aber nicht verkauft werden kann.
tagesschau.de: Lohnt es sich für Mode-Händler überhaupt, zeitlose Ware einzulagern?
Ruths: Das kommt auf Lagerflächen an. Der inhabergeführte Einzelhandel ist hier im Vorteil, denn da sind die Lager oft im Eigenbesitz, und es ist in der Regel auch irgendwo noch Platz. Schwierig ist es für die großen Modehändler, die ihre Läden in teuren Geschäftslagen haben. Dort große Mengen an Mode einzulagern, ist natürlich schwierig. Die Großen müssen sich anderweitig behelfen und vielleicht in einem Industriegebiet außerhalb noch eine Lagerhalle anmieten. Aber das ist natürlich aufwendig, denn auch das Sortieren, Wegpacken und Abtransportieren macht viel Arbeit und kostet Geld.
Entsorgen günstiger als Einlagern
tagesschau.de: Hinter vorgehaltener Hand wird berichtet, dass Händler zum Teil lieber Ware vernichten.
Ruths: Darüber wird nicht viel gesprochen, aber im Billigsegment muss das logischerweise passieren. Da ist die Massenware containerweise unterwegs. Wenn man da die Kosten für das Einlagern gegenrechnet, dann ist es für die Verantwortlichen günstiger, die Ware zu entsorgen - ob im Reißwolf oder in der Verbrennungsanlage, sei mal dahingestellt. Das andere Extrem sind sehr hochwertige Produzenten, die im Luxussegment unterwegs sind. Die wollen nicht, dass ihr Produkt verramscht wird. Das beschädigt die Marke, da vernichten sie lieber. Beides ist tragisch, denn es ist ja Ware, die genutzt werden könnte.
tagesschau.de: Eigentlich müsste dieser Tage die Frühjahrskollektion eintreffen. Wie finanzieren Sie die Ware?
Ruths: Das ist jetzt die große Aufgabe, die insbesondere den Textilhandel, aber auch den Lederwaren- und Schuhhandel betrifft. Die Waren werden saisonal vorgeordert, teilweise mit Laufzeiten von mehr als einem halben Jahr. Das heißt, die Ware ist produziert, unterwegs und muss jetzt gezahlt werden. Das ist jetzt die Schwierigkeit: Wer hat noch genug Liquidität, um das zu stemmen? Kann man irgendwie zwischenfinanzieren und kann die neue Ware überhaupt verkauft werden? Es ist ja noch nicht in Sicht, dass wir bald wieder Normalbetrieb bekommen. Wir wissen jetzt schon, dass es einige Kollegen nicht schaffen, in dieser Situation zu bestehen - zumal auch die staatlichen Hilfen auf sich warten lassen.
Jochen Ruths führt sein Modegeschäft bereits in der vierten Generation.
Warten auf Hilfen des Staates
tagesschau.de: Der Handel musste kurz vor Weihnachten schließen. Können Sie denn die für diesen Zeitraum greifende Hilfe, die Überbrückungshilfe III, beantragen?
Ruths: Nein, die Überbrückungshilfe III können wir noch nicht beantragen. Die Politik hat es ja gerade erst geschafft, dass die Novemberhilfen in der Auszahlung sind. Jetzt machen sich also die Programmierer daran, die Erfassungsmasken für die Überbrückungshilfe III zu erstellen. Schauen wir mal, bis wann sie fertig sind und bis wann die Hilfe kommt. Es hieß ja, spätestens im ersten Quartal. Daran glaube ich ehrlicherweise nicht. Bei den Novemberhilfen wurde es ja auch Januar. Und ich befürchte, dass das, was dann zur Auszahlung kommt, nicht reichen wird, um die Händler zu retten.
tagesschau.de: Finden Sie trotzdem richtig, dass Läden des Einzelhandels geschlossen sind?
Ruths: Wir haben etliche Läden, die aufhaben, nehmen wir den ganzen Lebensmittelhandel, was ja auch nachvollziehbar ist. Es geht schließlich um die Frage der Kontaktreduzierung. Nichtsdestotrotz gibt es integriert im Lebensmittelhandel mitunter auch große Verkaufsflächen für Textilien. Das empfinden viele Modehändler als ungerechte Situation. Ich persönlich bin bei den Wissenschaftlern, die fragen, wo kommt denn das Infektionsgeschehen her und ist wirklich jede Maßnahme in diesem Umfang sinnvoll. Die Politik muss das Gesamtbild betrachten und aufpassen, dass der Teufel nicht mit dem Beelzebub ausgetrieben wird.
Das Interview führte Sandra Scheuring, HR