Virtuelle Hauptversammlung Die Baustellen des Siemens-Konzerns
Siemens ist auf dem Weg zum Digitalkonzern. Passend dazu findet die Hauptversammlung rein virtuell statt. Die Chefetage wünscht sich, dass das auch so bleibt - doch mit Widerstand der Aktionäre ist zu rechnen.
Was waren das noch für Zeiten, als bei bitterer Kälte, immer zum Jahresanfang, vor der Münchener Olympiahalle demonstriert wurde. Aktivisten in Kängurukostümen kritisierten Siemens-Aufträge in Australien. Betriebsräte aus Görlitz fürchteten um ihren Standort und organisierten eine Kundgebung vor der Halle, nach einer tagelangen Fahrradtour durch Deutschland.
Dazwischen jede Menge Reporter und Kameras, um Aktionärsschützerinnen und Fondsmanager zu interviewen. Manchmal kamen "nur" 4000 Aktionäre in die Olympiahalle, manchmal waren es mehr als 10.000 Leute.
Aus der Not eine Tugend?
Heute ist alles anders: Das virtuelle Aktionärstreffen findet am Konzernsitz in München statt, am Wittelsbacher Platz. Die Kulisse sieht aus wie ein Nachrichtenstudio und der Ablauf dürfte eher an einen Notartermin erinnern. Am wichtigsten ist, dass die Technik mitspielt. Geht es nach dem Willen der Konzernleitung, dann stimmen die Anteilseigner für den Plan, auch 2024 und 2025 nur im Netz an der Hauptversammlung teilzunehmen.
Dies lehnen viele Aktionärsvertreter, Fondsmanagerinnen und Kleinaktionäre aber ab, weil sie den direkten Dialog mit Vorstand und Aufsichtsrat wollen. Doch was während der Corona-Pandemie als Notlösung gedacht war, das erscheint der Chefetage nun als kostengünstige Option für die Zukunft, denn Hallenmiete, Catering und Sicherheitspersonal sind teuer.
Fachkräfte dringend gesucht
Mit Kundgebungen und Protesten ist heute jedenfalls nicht zu rechnen - die meisten strittigen Themen der vergangenen Jahre sind längst abgeräumt. Statt Stellen im großen Stil zu streichen, sucht Siemens händeringend nach Softwarespezialisten.
Der Konzernumbau, den der frühere Konzernchef Joe Kaeser konsequent vorantrieb, ist vollzogen. Sein Nachfolger Roland Busch ist Chef eines Konzerns, der sein Geld mit Software und IT-Dienstleistungen verdient, mit digitalen Zwillingen und Industrieautomatisierung.
Stärkerer Software-Bereich gefordert
Nach der Aufspaltung ist Siemens profitabler geworden. Die Margen, die das neue Kerngeschäft (Digital Industries) verdient, sind sehr viel höher, als es ein "Gemischtwarenladen" je könnte. Übrig geblieben sind die Verkehrstechnik (Mobility) und das Geschäft mit intelligenter, nachhaltiger Gebäudetechnik (Smart Infrastructure). Auch diese beiden Teile verdienen gutes Geld.
Aber ihre Margen sind weit entfernt von den 20 Prozent und mehr, die ein reiner Software- und IT-Konzern erreichen könnte. Deshalb solle sich Siemens eher im Software-Bereich verstärken mit weiteren Firmenübernahmen, fordern Renditestrategen, aber nicht in den anderen Sparten.
Gesundheit und Energie abstoßen?
Im Deutschen Aktienindex vertreten ist derzeit die gesamte Siemens-Familie: Siemens, Siemens Healthineers und Siemens Energy. Doch noch immer sind viele Analysten und Fondsmanagerinnen nicht zufrieden mit dem Erreichten.
Um zum lupenreinen Digitalkonzern zu werden, argumentieren sie, müsste sich Siemens auch von seiner Beteiligung an Healthineers von derzeit noch 75 Prozent trennen sowie von seiner Beteiligung an Energy von aktuell noch 35 Prozent.
Sorgenkind Siemens Gamesa
Der Münchener Konzern hatte das margenschwache Energietechnikgeschäft abgespalten und im Herbst 2020 an die Börse gebracht. Die finanzielle Mitgift für Siemens Energy war großzügig, doch seitdem häufen sich die Probleme ausgerechnet im Windkraftbereich, der zunächst als Hoffnungsträger galt.
Die Tochter Siemens Gamesa wird in Spanien nun von der Börse genommen, damit die Manager von Siemens Energy komplett durchgreifen können. Der Aktienkurs erinnert eher an eine Achterbahnfahrt. Würde Siemens seine Beteiligung sehr schnell deutlich abschmelzen, dann käme der Kurs des Energietechnik-Unternehmens vermutlich stark unter Druck.
Siemens Energy schreibt tiefrote Zahlen. Geld verdient wird derzeit ausgerechnet mit dem "braunen Portfolio", also mit den fossilen Energien, dem lukrativen Servicegeschäft, den Netzen und Speichern - aber eben nicht mit den Windrädern.
Healthineers gehört zur DNA
Bei allen Forderungen, die immer wieder von Fondsmanagern und Analystinnen erhoben werden und die vor allem auf die Rendite abzielen, darf eines nicht vergessen werden: Zur "DNA" von Siemens gehören gerade die Standorte von Healthineers in Franken.
Aber seine immer noch hohe Beteiligung bietet dem Siemens-Konzern auch die Chance, ein größeres Aktienpaket irgendwann an einen neuen starken Partner aus der Medizintechnik abzugeben. Die Branche ist KI-getrieben und im Umbruch. Dieses Szenario hatten Analysten bereits zum Börsengang des Erlangener Unternehmens im März 2018 als mögliche Option aufgezeigt.
Siemens-Spitze weiblicher als früher
Die Chefetage von Siemens ist sehr viel "weiblicher" geworden. Auch das ist ein Unterschied zu früher, als auf dem Podium in der Olympiahalle fast nur Männer saßen. Während Arbeitsdirektorin Judith Wiese unter vier männlichen Vorständen die einzige Frau bleibt, gehören inzwischen mehrere Frauen zum Aufsichtsrat.
Doch sehen kann man sie heute nicht, denn in einer rein virtuellen Hauptversammlung dürfen sie zu Hause bleiben - im Homeoffice.