Bundesverfassungsgerichtsurteil EZB-Anleihekaufprogramm teilweise verfassungswidrig
Das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank zur Stabilisierung des Euro seit der Finanzkrise ist zum Teil nicht verfassungskonform. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht.
Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) verstößt teilweise gegen das Grundgesetz, weil Bundesregierung und Bundestag die EZB-Beschlüsse nicht geprüft haben. Dieses Urteil verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Damit stellt es sich gegen eine vorherige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Das Verfahren sollte klären, ob die EZB mit ihrem Programm zum Ankauf von Staatsanleihen, dem "Public Sector Purchase Programme" (PSPP), mehr macht, als sie nach den EU-Verträgen darf - nämlich nicht nur Geldpolitik, sondern auch Wirtschaftspolitik und Staatsfinanzierung. Das Gerichtsverfahren hatte bereits mehrere Schritte durchlaufen, nun musste das Bundesverfassungsgericht abschließend entscheiden, ob ein Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz vorliegt.
Gericht gibt Verfassungsbeschwerden teilweise statt
Mit dem Urteil, das Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle verkündete, hatten Verfassungsbeschwerden teilweise Erfolg. Beschwerdeführer sind unter anderen der frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler und AfD-Gründer Bernd Lucke. Das Urteil erging mit sieben zu eins Stimmen.
"Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung der PSPP entgegenzutreten", heißt es in dem Urteil. Bundesregierung und Bundestag hätten durch ihr tatenloses Zusehen Grundrechte verletzt. Der Senat stellte aber keine verbotene Staatsfinanzierung fest.
EZB agiert außerhalb ihrer Kompetenzen
Voßkuhle sagte bei der Urteilsverkündung, erstmals in seiner Geschichte stelle das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien. Sie könnten daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten.
Ultra Vires - jenseits der Gewalten - heißt der rechtliche Begriff, mit dem die EZB sich außerhalb der europäischen Verträge begeben habe. Ändere sich daran nichts in den nächsten drei Monaten, dürfe die deutsche Bundesbank nicht mehr an Anleiheaufkäufen durch die EZB mitwirken.
Auch der EuGH habe sich aus deutscher Sicht falsch verhalten, so Voßkuhle. Er sei seiner Kontrollaufgabe nicht nachgekommen und habe nicht erkannt, dass die Anleihekäufe im Verhältnis zu ihren Nebenwirkungen unverhältnismäßig seien.
Die Bundesregierung reagierte zurückhaltend auf die Entscheidung. Man nehme das Urteil "mit großem Respekt zur Kenntnis", sagte der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Jörg Kukies. Die Bundesregierung will sich bei der EZB für eine gründliche Prüfung der beanstandeten Anleihekäufe einsetzen. Man gehe aber auch davon aus, dass die EZB das tun werde, so Kukies.
Mehr als zwei Billionen Euro für Staatsanleihen
Die EZB hatte das Anleihekaufprogramm PSPP, auf das sich das Urteil bezieht, im Jahr 2015 aufgelegt, um die Märkte nach der Finanzkrise mit Geld zu versorgen und eine Inflationsrate von etwas unter zwei Prozent zu erreichen.
Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die Notenbank auf diese Weise rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere investiert. Die Deutsche Bundesbank ist mit etwas mehr als 26 Prozent der größte Anteilseigner der EZB. Entsprechend groß ist auch ihr Anteil an den Käufen.
Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.
Urteil mit langer Vorgeschichte
Die gegen diese Geldpolitik gerichteten Verfassungsbeschwerden beschäftigen die Karlsruher Richter seit Jahren. Zweimal hatte das Bundesverfassungsgericht den EuGH angerufen, zweimal hatte der EuGH die Staatsanleihenkäufe abgesegnet - zuletzt im Dezember 2018. Von dieser Auffassung wich das Bundesverfassungsgericht nun ab.
Trotz der massiven Kritik im Urteil an EuGH und EZB sagte Voßkuhle, die europäische Rechtsgemeinschaft verliere nichts von ihrer Bedeutung; vielmehr bräuchte sie zur Krisenbewältigung das Recht als festes gemeinsames Fundament.
Die aktuellen Corona-Hilfen der EZB waren nicht Gegenstand der Entscheidung.