Adani Corporate House in Ahmedabad, Indien
Hintergrund

Strategie der Leerverkäufer Im Visier der Shortseller

Stand: 08.02.2023 08:26 Uhr

Nach Betrugsvorwürfen hat die indische Adani-Gruppe viele Milliarden an Wert verloren. Ins Rollen gebracht hat die Vorwürfe ein sogenannter Shortseller. Nicht zum ersten Mal gerät ein Großkonzern durch Leerverkäufer unter Druck.

Von Antonia Mannweiler, tagesschau.de

"In Kürze werden wir einen Bericht über den mutmaßlich größten Unternehmensbetrug der Geschichte veröffentlichen", twitterte der Shortseller Hindenburg Research am 24. Januar. Einen Tag später trat der US-Leerverkäufer mit einer Serie von Tweets und einem groß angelegten Report eine Welle los, die den drittreichsten Mann der Welt und sein Adani-Imperium an der Börse innerhalb kürzester Zeit Milliarden kostete.

Zwei Wochen nach dem Tweet ist der Unternehmenswert der indischen Adani-Group um ganze 110 Milliarden Dollar geschmolzen. Die Investmentfirma Hindenburg Research, hinter der der 38-jährige Shortseller Nathan Anderson steht, hat das Unternehmen mit einer Vielzahl von Vorwürfen schwer belastet und den Aktienkurs des Unternehmens in den Keller geschickt. Nach zwei Jahren Recherche wirft Hindenburg Research der Adani Group vor, den Aktienkurs mittels Finanzbetrug und Briefkastenunternehmen über Jahre hinweg manipuliert zu haben.

Den Namen Hindenburg Research dürfte sich der Shortseller dabei nicht zufällig ausgesucht haben. Das damals größte und modernste Zeppelin, die deutsche "Hindenburg", stürzte 1937 in Lakehurst ab. Mutmaßlich entzündete sich ein Wasserstoff-Luft-Gemisch und setzte das Luftschiff in Brand. In der Vergangenheit haben Leerverkäufer auch vermeintlich unantastbare große Unternehmen in die Knie gezwungen oder sogar zu Fall gebracht. Adani wäre längst nicht der erste Fall.

Wirecard, Grenke und Adler im Visier von Perring

In Deutschland geriet der einstige DAX-Konzern Wirecard vor seinem Kollaps ins Visier von Shortsellern. So erhob der Brite Fraser Perring in einem Report bereits 2016 Vorwürfe gegen das Finanzunternehmen. Der Leerverkäufer griff auch andere deutsche Unternehmen scharf an. Über sein Analysehaus Viceroy Research attackierte Perring den Finanzdienstleister Grenke ebenso wie den deutsch-luxemburgischen Immobilieninvestor Adler Group. Das Analysehaus bezeichnete Adler als "Brutstätte von Betrug, Täuschung und finanzieller Falschdarstellung". Die Unternehmen wiesen die Vorwürfe zurück.

Shortseller - gefeiert wie gefürchtet

Auch Fahmi Quadir gehört zu den Leerverkäufern, die gegen Wirecard gewettet haben. Quadir hat sich in der Branche den Ruf als "Assassin" erarbeitet mit ihren Angriffen auf Firmen wie das kanadische Pharmaunternehmen Valeant. Carsten Block von Muddy Waters erhob 2011 Vorwürfe der Bilanzmanipulation gegen das chinesische Forstunternehmen Sino Forest. Noch vor dem kritischen Report wurde der Konzern an der Börse mit sechs Milliarden Dollar bewertet, kaum ein Jahr später musste das Unternehmen Insolvenzschutz beantragen.

An der Wall Street gefeiert wie gefürchtet ist auch der US-Shortseller Jim Chanos. Mit seinem Fonds Kynikos Associates positionierte sich der im Jahr 2000 früh gegen den einstigen amerikanischen Energieriesen Enron, bevor der Bilanzskandal an die Öffentlichkeit drang.

Aber viele Leerverkäufer haben sich auch verkalkuliert und mit ihren Wetten gegen Unternehmen Milliarden verloren. Die US-Hedgefonds-Größe Bill Ackman etwa vermutete ein gigantisches Schneeballsystem hinter dem Diätprodukte-Hersteller Herbalife. Doch statt zu fallen, stieg die Aktie mit der Hilfe anderer Investoren - und Ackman verlor Milliarden.

Wette auf fallende Kurse

Wie gehen die Leerverkäufer dabei vor? In der Regel erwerben Kleinaktionäre oder auch professionelle Anleger Aktien, von deren Potential sie überzeugt sind - und von denen sie erwarten, dass sie in der Zukunft zulegen. Leerverkäufer, auch Shortseller genannt, setzen auf das Gegenteil: Sie wetten auf fallende Aktienkurse. Grob gesagt leihen sie sich dafür Papiere am Markt zu dem aktuellen Kurs aus und verkaufen diese wieder "leer" - da sie die Titel nicht wirklich besitzen. Wenn der Kurs gefallen ist, kaufen sie sich die Papiere am Markt günstiger zurück, geben die Aktie dem Verleiher zurück und streichen die Differenz ein.

Die Methode ist jedoch riskant: Denn steigen die Kurse an der Börse statt zu fallen, können die Verluste der Shortseller enorme Ausmaße annehmen. Gamestop-Leerverkäufer mussten diese Erfahrung 2021 machen, als der Aktienkurs des Video-Spielehändlers innerhalb kürzester Zeit nahezu explodierte anstatt zu fallen. Banken oder andere Akteure an den Finanzmärkten fordern daher Sicherheiten von den Leerverkäufern, um ihre Positionen zu decken.

Verhasstes Korrektiv?

Kritiker werfen den Leerverkäufern dabei nicht selten unlautere Taktiken oder gar Täuschung vor. Immer wieder geraten Shortseller dabei auch ins Fadenkreuz von Ermittlern. Ein früherer Hedgefonds-Manager nannte eine Strategie etwa "Smash and Grab" - also etwas zerschlagen und es sich dann greifen. Dabei werden zuerst Vorwürfe erhoben, auf die der Absturz der Aktie folgt. Solange den Vorwürfen nachgegangen wird, können die Leerverkäufer ihre Positionen mit Gewinnen schließen.

Andere Experten sehen in den Shortsellern dagegen ein wichtiges Korrektiv für die Märkte. Dazu zählt auch Michael Grote, Finanzprofessor an der Frankfurt School of Finance and Management. Ohne die Möglichkeit eine Aktie leer zu verkaufen, gebe es eine Verzerrung des Preises, sagt er tagesschau.de. Bei guten Nachrichten könne man die Titel kaufen. Bei schlechten Nachrichten könne man dagegen nur die Papiere verkaufen, die man schon habe. Wer keine Aktie besitze, könne jedoch nichts machen. Erst mit der Option, die Aktie leer zu verkaufen, könne man verborgene Fakten in den Kurs einpreisen, so Grote.

Zusätzliche "Aufpasser" am Markt

Leerverkäufer sind aus Sicht des Experten zusätzliche "Aufpasser" am Markt, die einen genauen Blick auf Bilanzen werfen - angetrieben dadurch, dass sie Geld verdienen können. Grote bezeichnet die Leerverkäufer daher auch als Bindeglied zwischen uninformierten Aktionären und Aufsichtsbehörden. Bei Fehlfunktionen würden Leerverkäufer im Grunde genommen Alarm schlagen.

Dass Shortseller so unbeliebt seien, habe dabei mit einem negativen Grundgefühl zu tun, sagt Grote: dass man Geld verdient mit den Misserfolgen eines Unternehmens, gelte bei manchen als "unanständig". Andere Kritiker unterstellen den Leerverkäufern pure Spekulation. Dass sie aus reiner Spekulation böse Gerüchte streuen, sei jedoch ein verzerrtes Bild, findet Grote. Es droht ein Reputationsschaden: Ohne fundierte Analyse laufen die Fonds, die Anlegergeld verwalten, beim nächsten Mal Gefahr, kein Geld mehr einzusammeln.

Aktie könnte überbewertet sein

Die Informationen der Leerverkäufer müssten verifizierbar sein, um die Marktteilnehmer zu überzeugen, sagt auch Christian Schlag, der an der Goethe Universität lehrt und dem Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE angehört. Der Fall Wirecard habe gezeigt, dass hinter einigen Vorwürfen etwas dran sein könne, so Schlag gegenüber tagesschau.de.

Dabei gebe es jedoch nie eine Garantie, sagt der Experte. Selbst bei temporären Finanzierungsproblemen könne die zukünftige Unternehmensentwicklung gut sein. Nicht immer heiße ein Leerverkauf, dass die Aktie auf Null falle, sondern dass sie vielleicht einfach überbewertet sei.