Nach Erdbeben in Türkei "Das Gesundheitssystem gibt es nicht mehr"
Nach dem Erdbeben flog der Darmstädter Arzt Celik in die Türkei und half in einem Feldkrankenhaus. Im Interview berichtet er von den Bedingungen vor Ort und den psychischen Auswirkungen - für Betroffene und Ärzte.
tagesschau.de: Sie waren in den letzten Tagen in der Türkei und haben dort als Arzt geholfen. Warum sind Sie dort hin?
Cihan Celik: Es ging mir so wie vielen anderen Menschen, vor allem auch Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die von diesem schweren Erdbebens sehr betroffen waren und eine Möglichkeit gesucht haben, wie man helfen kann. Das hat man ja auch an der großen Spendenbereitschaft gesehen.
Und ich wollte natürlich das beisteuern, was ich beisteuern kann: medizinische Hilfe. Und ich habe zunächst versucht, das auf offiziellem Wege zu machen, indem ich Hilfsorganisationen und die Behörden angesprochen habe. Aber dann habe ich gemerkt: Das muss man mit eigenen Verbindungen und eigenen Connections machen.
Ich habe auch in der Familie schon eine gewisse Angst vor Erdbeben mit in die Wiege bekommen: Meine eigene Familie stammt aus dem Südosten der Türkei. 1966 gab es dort ein großes Erdbeben in Varto, da war meine eigene Mutter als Kind mehrere Stunden unter den Trümmern ihres Hauses gefangen. Von daher war ich sehr bewegt und wollte unbedingt helfen.
Privat organisiertes Feldkrankenhaus
tagesschau.de: Wohin genau sind sie dann gefahren?
Celik: Ich bin nach Adana geflogen, das ist am Rande des Erdbebengebietes. Dort habe ich mir ein Auto gemietet und bin in das Epizentrum der Zerstörung gefahren, in die Hafenstadt Iskenderun. Dort findet sehr viel Koordination der Hilfe statt und es kommen viele Hilfsgüter an.
Die Stadt wurde auch sehr stark getroffen und dort gab es ein Feldkrankenhaus, das privat organisiert worden ist. Dessen ärztlichen Leiter hatte ich vorher kontaktiert. Er war sehr froh über fachärztliche Hilfe und ich habe direkt mit einer Nachtschicht begonnen.
Atemwegsinfektionen und zu wenig Frischwasser
tagesschau.de: Was für Verletzungen, was für Erkrankungen gibt es da? Was für Patienten sind Ihnen da begegnet?
Celik: Dort ist keine reguläre Gesundheitsversorgung mehr vorhanden. Das gesamte Gesundheitssystem, von Praxen über Apotheken bis hin zu den Krankenhäusern und Maximalversorgern gibt es dort nicht mehr. Daher müssen die Feldkrankenhäuser jetzt alle Erkrankungen abdecken.
Da die Menschen seit zwei Wochen schon in Zelten oder unter freiem Himmel leben, sind das vor allem Infektionen der Atemwege. Vor allem sehr viele Kinder haben wir behandelt - mit Infekten der oberen und unteren Atemwege bis hin zur Lungenentzündung.
Aber auch Magen-Darm-Infekte, Durchfallerkrankungen und Erbrechen sind dabei. Und es gab immer noch viele Patienten, die schlecht versorgte oder infizierte Wunden hatten, die sie vom Erdbeben davongetragen hatten. Auch eine Amputation eines Zehs, der sich infiziert hatte, war notwendig. Außerdem war es unsere Aufgabe, Medikamente zu beschaffen und die Menschen mit chronischen Erkrankungen damit zu versorgen.
"Man muss alles behandeln"
tagesschau.de: Sie sind Lungenfacharzt, aber Sie mussten dann auf einmal Wunden desinfizieren und Sie haben von einem Zeh gesprochen. Was passiert da mit einem Mediziner?
Celik: Sich auf seine fachärztliche Expertise zurückzuziehen, das geht dort nicht. Da waren Krankenschwestern und Fachärzte aus allen Richtungen, auch Augenärzte und Zahnärzte, sogar Tierärzte damit beschäftigt, alles abzudecken, was die Menschen an Problemen hatten.
Wir hatten sehr wenig apparative Diagnostik - heutzutage ist man ja in der modernen Medizin sehr auf Labor und Röntgenbilder und alle anderen Arten von apparativer technischer Diagnostik angewiesen. Wir hatte dort nur unsere Hände, unseren Menschen- und Sachverstand sowie unser Stethoskop.
Katastrophale Hygiene
tagesschau.de: Lassen Sie uns noch ein bisschen auf die Krankheitsbilder gucken. Was für Zustände sind das da?
Celik: Die Rahmenbedingungen, sowohl was die Unterkunft als auch die Hygiene angeht, sind natürlich katastrophal. Dementsprechend - auch aufgrund der Kälte in der Nacht - gibt es viele Atemweginfektionen und Lungenentzündungen. Covid-Diagnostik konnten wir nicht machen, aber es war die Vermutung, dass darunter auch viele Covid-Fälle sein könnten.
Bei den Kindern war häufig Bronchitis ein Problem und es gab auch viele Magen-Darm-Infektionen mit Durchfallerkrankungen. Wir mussten viele intravenöse Therapien einleiten, weil viele Kinder ausgedörrt waren, schon gar nicht mehr richtig wach waren. Das war sehr niederschmetternd. Und Wunden, die wir gesehen haben, waren häufig überhaupt nicht sauber gehalten worden, sodass wir häufig Antibiotika einsetzen mussten.
Probleme mit Medikamenten
tagesschau.de: Sie haben gesagt, das Wasser sei nicht gereinigt an vielen Stellen. Was passiert mit einem Menschen, wenn er kein sauberes Wasser zu trinken bekommt?
Celik: Momentan wird Flaschenwasser geliefert. Und die Behörden haben schon davor gewarnt, bloß kein Wasser aus der Leitung zu trinken, solange das nicht zweifelsfrei freigegeben worden ist. Die Erfahrung aus vorherigen Katastrophen zeigt, dass es zu Durchfallerkrankungen kommen kann, auch Cholera, wenn die Wasserhygiene nicht gewährleistet ist.
Davor haben wir große Sorge, denn so viele Menschen mit Dehydratationen in der Hitze zu versorgen, ist eine große Herausforderung. Daher müssen die Behörden darauf Wert legen, dass es gar nicht erst dazu kommt. Und da ist die Hygiene der wichtigste Punkt.
Ein anderes Problem sind Medikamente für chronischen Erkrankungen. Gerade ältere Menschen haben beispielsweise Herzinfarkte gehabt oder Herzrhythmusstörungen. Es ist sehr wichtig, dass sie ihre Dauermedikation dafür einnehmen. Und viele Menschen nehmen keinerlei Medikamente mehr ein, weil sie sagen: Ich bin einfach nur froh, am Leben zu sein.
Starke psychische Belastung
tagesschau.de: Haben Ihnen die Menschen auch etwas über ihre psychische Situation erzählt?
Celik: Die größte psychische Belastung ist die Trauer. Das Leid ist unvorstellbar: Fast jeder Patient hat Familienangehörige verloren. Das nimmt einen mit, denn das ist die Grundatmosphäre dort und keine Ausnahme. Und nicht nur bei den Patienten, sondern auch in dem Team, mit dem ich zusammengearbeitet habe.
Ich war nur eine Woche da, aber dort sind Menschen, die seit dem ersten Tag mitgeholfen haben, Menschen aus den Trümmern zu ziehen und jetzt immer noch dort sind und kranke Patienten versorgen. Das sind Heldengeschichten: Die arbeiten unter größter Aufopferung weiter und sorgen dafür, dass den Menschen geholfen wird.
Ich habe größten Respekt vor dieser Leistung und ich hoffe einfach nur, dass die psychosoziale Betreuung - auch der Helfer - irgendwann Fahrt aufnimmt.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.