Ärzte operieren ein Erdbebenopfer in Harim, Syrien.
interview

Ärzte im Erdbebengebiet Von Chirurgie bis Wasserversorgung

Stand: 15.02.2023 16:34 Uhr

Nach dem Erdbeben brauchen die Menschen vor Ort medizinische Hilfe. Es gehe darum, Wunden und Brüche zu versorgen, sagt Medizinerin Parvanta. Aber auch um sauberes Trinkwasser - sonst drohen Infektionskrankheiten.

tagesschau.de: Mit wie vielen Hilfskräften sind Sie gerade im Erdbebengebiet unterwegs?

Parnian Parvanta: Wir waren in Nordwestsyrien bereits vor dem Erdbeben aktiv und haben etwa 500 Menschen, die für uns dort vor Ort arbeiten. Das sind vor allem syrische Kollegen und Kolleginnen, die zum einen natürlich überwältigt sind von der Arbeit, die sie jetzt leisten müssen. Denn die kommt ja zu der Arbeit, die sie bereits vorher geleistet haben, hinzu. Gleichzeitig sind sie aber auch Betroffene, die Familienangehörige verlieren, die ihre Häuser verlieren. Und wir wissen bisher von zwei Kolleginnen, dass sie selbst leider durch das Erdbeben zu Tode gekommen sind.

Parnian Parvanta
Zur Person

Dr. Parnian Parvanta ist seit Juni 2021 stellvertretende Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Die Gynäkologin war bereits in zahlreichen Einsätzen etwa in Nigeria oder Indien.

tagesschau.de: Was ist jetzt die wichtigste Aufgabe, die Ärzte ohne Grenzen im Erdbebengebiet gerade zu erledigen hat?

Parvanta: Was wir machen, ist, dass wir mit dem Team und mit den Möglichkeiten, die wir vor Ort haben, vor allem Hilfsgüter in Krankenhäuser und die Gesundheitsversorgung bringen. Wir versorgen Familien mit Decken, mit Notfallkits, mit dem, was man für den Alltag in so einer Katastrophensituation braucht.

Wir sind aber auch medizinisch weiterhin tätig. Unsere Kollegen und Kolleginnen bieten ihre Unterstützung und Hilfe in vielen anderen Krankenhäusern an und sind von chirurgischen Interventionen bei schweren körperlichen Verletzungen bis hin zu Wasser- und Hygieneversorgung - die größtenteils zusammengebrochen sind - aktiv. Auch die Geburtshilfe geht ja weiter, denn trotz eines Erdbebens sind Frauen schwanger und kriegen natürlich auch Kinder. Und auch Kinder müssen versorgt werden. Das heißt, unsere Kollegen versuchen überall, wo sie gerade können, die Helfer vor Ort zu unterstützen.

tagesschau.de: Was gibt es für Verletzungen? Wahrscheinlich fallen einem als erstes viele Wunden und gebrochene Knochen ein. Heißt das, Chirurgen sind da besonders gefragt?

Parvanta: Es sind Körperverletzungen, die versorgt werden müssen. Das können Brüche sein, die versorgt werden müssen, das ist aber auch einfache Wundversorgung, die natürlich zeitnah passieren muss, um Infektionen zu verhindern. Auch durch die Unterkühlung sind Menschen stark betroffen. Und natürlich sind Menschen mit chronischen Erkrankungen betroffen, die nicht mehr die medizinische Versorgung kriegen können, die sie vorher gebraucht haben.

Parnian Parvanta, stellvertr. Vorsitzende Ärzte ohne Grenzen Deutschland, über die medizinische Lage im Erdbebengebiet

tagesschau24 12:00 Uhr

Sorge vor Infektionen

tagesschau.de: Was passiert, wenn Wunden nicht zeitnah versorgt werden können. Was passiert mit den Menschen, wenn zum Beispiel Dreck in die Wunde kommt oder wenn nicht sauberes Wasser benutzt wird?

Parvanta: Wenn Wunden nicht adäquat versorgt werden können, können sie sich infizieren und im schlimmsten Fall kann das zu einer Blutvergiftung führen, was tödlich enden kann. Tetanus spielt dann natürlich eine Rolle, wenn da Infektionen ausbrechen. Auch das ist etwas, was tödlich enden kann. Und auch Erfrierungen können Wunden verursachen, die ebenfalls, wenn sie nicht adäquat versorgt werden können, zur Infizierung und im schlimmsten Fall auch zum Tode führen können.

Cholerafälle in Syrien

tagesschau.de: Lassen Sie uns auf das Problem des verschmutzten Wassers schauen. Was passiert, wenn Menschen kein sauberes Trinkwasser bekommen?

Parvanta: Das ist ein großes Thema, was bereits vorher in Nordwestsyrien nicht ganz unproblematisch war. Nicht genügend sauberes Trinkwasser begünstigt, dass sich Infektionserkrankungen verbreiten oder dass Durchfallerkrankungen entstehen. Das wiederum kann dazu führen, dass Menschen austrocknen und Elektrolyte verlieren. Die bräuchten dann wiederum Wasser und Flüssigkeitszufuhr zur Therapie. Und wenn das nicht gegeben ist, besteht das Risiko, dass das tödlich endet.

Wasser und sanitäre Anlagen machen uns große Sorgen. Durch das Erdbeben ist die Situation deutlich schlechter geworden: Sanitäranlagen sind kaputt gegangen. Weil wir auch keine adäquate Elektrizität haben, ist die Möglichkeit, Wasser aufzubereiten, gestört. Deshalb besteht ein großes Risiko, dass Ausbrüche stattfinden. Und leider gibt es in Nordwestsyrien aktuell Cholerafälle. Das heißt, wir haben Sorge davor, dass die Cholera sich durch Grundwasserkontamination verbreiten könnte.

tagesschau.de: Cholera könnte dann viele Menschen treffen und für Betroffene letztendlich auch tödlich enden.

Parvanta: Absolut. Cholera kann, wenn man sie nicht behandeln, wenn man die sanitären Anlagen oder die Krankenhausversorgung nicht bieten kann, tödlich enden. Auch, wenn man die Elektrolytversorgung und den Flüssigkeitshaushalt nicht ausgleichen kann. Und gleichzeitig ist Cholera eben sehr infektiös über das Trinkwasser. Es ist leider zu befürchten, dass dieses Erdbeben viele sekundäre Effekte nach sich ziehen wird, die viele weitere Menschen betreffen.

tagesschau.de: Wenn wir von unsauberem Wasser reden, was bedeutet das konkret? Was ist das für ein Wasser?

Parvanta: Das ist Wasser, das nicht adäquat gereinigt wurde. Das können wir uns kaum vorstellen mit unseren Kläranlagen, die das wunderbar für uns jeden Tag erledigen, und wo wir aus dem Wasserhahn Wasser kriegen, was wir trinken können. Nach einem Erdbeben in dem Ausmaß und so einer Zerstörung können Menschen nicht einfach den Wasserhahn anmachen und Wasser rausnehmen. Und selbst wenn man das macht, weiß man nicht, wie dieses Wasser vorher aufbereitet wurde.

Das heißt, Menschen holen sich Wasser aus anderen Quellen und diese Quellen können kontaminiert sein, etwa durch Exkremente, die zum Beispiel Cholera enthalten. Wenn ich Wasser aus einem Fluss nehme und es im Zweifel nicht abkochen kann, besteht ein erhöhtes Risiko für eine Infektion, wenn sich an diesem Fluss vielleicht vorher jemand vorher gewaschen hat oder in der Nähe eine Toilette war und derjenige infiziert war.

Viele Atemwegserkrankungen

tagesschau.de: Wie ist die Situation der Kinder im Moment? Drohen vielleicht Masernausbrüche?

Parvanta: Syrien ist eines der Länder mit den höchsten Binnenflüchtlingsraten der Welt und Menschen auf der Flucht haben ein höheres Risiko, dass nicht alle Impfungen vorhanden sind, weil sie einfach nicht immer Zugang zu Gesundheitssystemen haben. Und da besteht natürlich auch das Risiko, dass die Masernimpfung nicht ausreichend abgedeckt ist. Und es besteht durchaus die Gefahr, dass, wenn viele Menschen zusammen an einem Ort sind, Masern ausbrechen.

Aber auch unabhängig von Masern ist das Risiko von Atemwegserkrankungen grundsätzlich sehr stark erhöht. Es sind Minusgrade vor Ort und die Menschen haben teilweise tagelang im Freien übernachtet. Es kommt dazu, dass es eventuell nass und windig ist und das führt dazu, dass Atemwegserkrankungen häufiger aufkommen und auch infektiös sein können. Und gerade für Kinder können Lungenentzündung auch tödlich enden. Deshalb ist es wichtig, dass sie adäquat versorgt werden.

tagesschau.de: Was brauchen Sie als Mitglied von Ärzte ohne Grenzen jetzt gerade am dringendsten?

Parvanta: Ich glaube, am dringendsten ist es, dass die Welt auch Nordwestsyrien im Blick behält. Denn dort war die Lage bereits vorher prekär und schwierig. Deshalb ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft hinsieht und auch die Menschen in vor Ort unterstützt.

Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 15. Februar 2023 um 16:00 Uhr.