Eine Joggerin läuft bei spätsommerlichen Temperaturen auf einem Weg durch den Eichenhain bei Stuttgart.

Gendermedizin Warum Frauen ein stärkeres Immunsystem haben als Männer

Stand: 16.09.2024 06:17 Uhr

Die Immunsysteme von Frauen und Männern ticken anders. Was aber bedeuten die Geschlechter-Unterschiede für die Therapie von Krankheiten oder die Dosierung von Impfstoffen?

Von Boris Geiger, BR

Unser Immunsystem ist hochkomplex - und unglaublich faszinierend. Rund 100 Milliarden Immunzellen produziert unser Körper - jeden Tag. In den Lymphknoten, im Blut, in der Milz, in der Leber und im Darm. Sie schützen uns vor Bakterien, Viren, Pilzen, Umweltgiften und anderen Krankheitserregern. Doch wie funktioniert das komplexe Zusammenspiel unserer Abwehrspieler? Und warum haben Frauen einen genetischen Vorteil bei der Immunabwehr?

Ob es den Männerschnupfen wirklich gibt, ist wissenschaftlich nicht bewiesen. Tatsächlich aber haben Männer im Schnitt ein weniger starkes Immunsystem als Frauen. Das liegt vor allem an den Genen, genauer gesagt an der Chromosomen-Kombination. Denn ein Großteil der Gene, die das Immunsystem beeinflussen, liegen ausschließlich auf dem X-Chromosom.

Personen mit zwei X-Chromosomen besitzen deshalb meist eine höhere Resilienz der Abwehrmechanismen als Personen mit X und Y-Chromosom. "Frauen sind von der Infektanfälligkeit her resistenter", sagt Bodo Grimbacher vom Centrum für Chronische Immundefizienz am Uniklinikum Freiburg.

Mehr Autoimmunkrankheiten

Die doppelte Dosis an Immun-Genen hat allerdings auch einen Nachteil: "Sie sorgt dafür, dass Frauen mehr zur Autoimmunität prädisponiert sind", so Grimbacher. Deshalb leiden Frauen häufiger an Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto, Lupus oder Multiple Sklerose.

Bei diesen Erkrankungen liegt eine fehlgeleitete Steuerung des Immunsystems vor. Das führt dazu, dass sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet und Zellen, Nerven, Gewebe und letztlich Organe angreift. "Der systemische Lupus ist bei Frauen neunmal häufiger als bei Männern", weiß Bodo Grimbacher, der in Freiburg Menschen mit Autoimmunerkrankungen behandelt.

Testosteron hemmt die Immunabwehr

Doch nicht nur die Gene entscheiden darüber, wie unsere Körperabwehr tickt, auch die Sexualhormone nehmen Einfluss auf unser Immunsystem. So können die weiblichen Geschlechtshormone - die Östrogene und Progesteron - die spezifische Antikörperbildung des erworbenen Immunsystems vorantreiben. Das männliche Hormon Testosteron dagegen hemmt die Arbeit des Immunsystems eher und kann die Immunreaktionen sogar teilweise unterdrücken.

Ein weiterer Faktor, der allerdings noch nicht umfassend erforscht wurde, ist die Hormonveränderung während des Menstruationszyklus und ihre Auswirkungen auf die Immunreaktion in dieser Phase. Klar scheint jedoch, dass es nach der Menopause aufgrund der hormonellen Umstellung meist zu einer Funktionsabnahme des Immunsystems bei Frauen kommt.

Allerdings wird die Schlagkraft der Immunabwehr bei allen Menschen im Alter schwächer. Doch was bedeuten diese Geschlechterunterschiede nun für die Therapie von Krankheiten oder die Dosierung von Impfstoffen?

Gendermedizin für Infektionskrankheiten?

Die individuellen Eigenschaften jedes Menschen - und eben auch die Chromosomen-Kombination - bestimmen die Anfälligkeit für Infektionen. Allerdings werden die unterschiedlichen Reaktionsweisen des Immunsystems bei Männern und Frauen in der klinischen Praxis bislang kaum berücksichtigt - sagt zumindest Markus Cornberg, Direktor des Zentrums für individualisierte Infektionsmedizin in Hannover.

So sind Männer meist anfälliger für eine Reihe von chronischen Infektionen wie Hepatitis B, Frauen wiederum reagieren häufiger mit Nebenwirkungen auf Infektionen oder auch auf Impfstoffe. "In der Klinik sehen wir bei Männern deutlich häufiger chronische Virusinfektionen als bei Frauen", sagt Cornberg, der seit Jahren an Hepatitis forscht.

Frauen wiederum litten etwa während der Pandemie mehr als doppelt so häufig unter Nebenwirkungen der Covid-19-Impfung wie Männer. Gleichzeitig zeigte sich bei der Kontrolle der Antikörper-Titer, dass Frauen nach einer Impfung einen besseren Impfschutz haben.

"Da frage ich mich als Wissenschaftler, ob man nicht Frauen niedrigere Impfdosen verabreichen könnte, damit diese weniger Nebenwirkungen haben. Oder ob man nicht umgekehrt Männern höhere Impfdosen verabreichen kann, um deren Widerstandsfähigkeit zu steigern", so Cornberg. Bei Medikamenten zur Behandlung von Infektionen wird die Dosis immerhin häufig vom Alter abhängig gemacht - aber fast nie vom Geschlecht, obwohl es im Umfang der Wirkung nachweisliche Unterschiede gibt.

Biologisches und soziales Geschlecht

Bislang gibt es in der Wissenschaft größtenteils Studien, die von Männern und Frauen sprechen. Oft ist dabei unklar, was ein Forschungsteam tatsächlich unter "Mann" und "Frau" versteht. Die Forschung bezieht sich hier auf das biologische Geschlecht, das die Verteilung der Chromosomen, die Sexualhormone und primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale meint. Das soziale Geschlecht, das auch non-binäre Personen einschließt, ist vom biologischen Geschlecht abgegrenzt. In diesem Artikel werden die Begriffe "Mann" und "Frau" ebenfalls als biologisches Geschlecht verwendet.

Doch egal welchem Geschlecht man angehört - in der kalten und nassen Jahreszeit sind vor allem Atemwegsinfekte ebenso häufig wie normal. Um sie abzuwehren, betreibt unser Körper einen enormen Aufwand. Das Immunsystem eines 73 Kilogramm schweren Mannes besteht aus rund 1,8 Billionen Zellen, die zusammen 1,2 Kilogramm wiegen. Eine 60 Kilogramm schwere Frau hat circa 1,5 Billionen Immunzellen, die rund ein Kilo wiegen. Damit wendet der menschliche Körper ungefähr fünf Prozent seiner gesamten Zellen für die Verteidigung auf. Eine erstaunliche Leistung.