Abwassermonitoring Polio-Viren in Klärwerken nachgewiesen
In den Abwasserproben mehrerer Städte wurden Polioviren nachgewiesen - abgeschwächte Impfviren. Der Fund ist für Wissenschaftler kein Grund zur Sorge, sondern ein Beleg dafür, wie gut die Kontrollen funktionieren.
In sieben Städten werden regelmäßig Abwasserproben untersucht - zuerst wurden in München, Bonn, Köln und Hamburg Polioviren entdeckt. Jetzt hat es auch aus Klärwerken in Dresden, Düsseldorf und Mainz positive Testergebnisse gegeben. Das teilte das Robert Koch-Institut (RKI) mit.
Bei den Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um Viren, die auf die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mit abgeschwächten, aber lebenden Polio-Erregern zurückgehen. Die abgeschwächten Impfviren können sich in sehr seltenen Fällen so verändern, dass sie wieder Krankheiten auslösen können. Sie können auch über einen längeren Zeitraum mit dem Stuhl ausgeschieden werden.
In Deutschland wird seit 1998 kein Schluckimpfstoff mit einem abgeschwächten, lebenden Virus mehr verwendet, sondern ein inaktivierter Impfstoff. Daher wird vermutet, dass die nun im Abwasser entdeckten Viren von Personen, die eine Schluckimpfung erhalten hatten, importiert wurden.
Mutation extrem selten
Wissenschaftler aber geben Entwarnung. Eine Polio-Impfung schützt gut, so Andreas Wieser vom Institut für Infektions- und Tropenmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks. Sie schütze sowohl gegen den Wildtypus des Virus als auch gegen Viren, die durch Mutation von Impf-Viren ihre Neurotoxizität wiedererlangt haben, also die Krankheit Kinderlähmung wieder auslösen können.
Diese Mutation ist extrem selten. Sie liege statistisch bei "1 zu 2,7 Millionen" beim Schluckimpfstoff. Der Virologe Rainer Gosert vom Universitätsspital Basel sagt, dass daher sogenannte Impf-Polio-Fälle "relativ unwahrscheinlich" seien, "da die Impfquote in Deutschland bei gut 90 Prozent liegt." Allerdings sei die Impfquote regional unterschiedlich.
Roman Wölfel vom Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr ergänzt, dass man bislang millionenfach gegen Polio geimpft und Kinderlähmung verhindert habe, aber nur wenige Tausend Impfpolio-Fälle weltweit aufgetreten seien.
Zwei Impf-Arten - nur eine kann zu Mutationen führen
Es gibt zwei Arten der Impfung gegen die Kinderlähmung: die Schluckimpfung mit einem oralen Polioimpfstoff (OPV) und die per Spritze mit einem inaktivierten Polioimpfstoff (IPV). OPV wird in vielen Ländern Asiens und Afrikas verabreicht. Darin, so Wieser, befinden sich abgeschwächte Viren, die Menschen infizieren können, aber keine Symptome hervorrufen.
Sie lösen eine abgeschwächte Infektion aus, die mehrere Wochen im Magen-Darm-Trakt bleibt. Während dieser Zeit können diese abgeschwächten Viren auch ausgeschieden und von Mensch zu Mensch übertragen werden. Dabei können sie - sehr selten - wieder zu einem krank machenden Virus mutieren. Einige Wochen nach der Schluckimpfung sind die Geimpften aber vor einer Infektion mit dem Wildtyp des Poliovirus sicher und können es daher auch nicht mehr weitergeben.
Der IPV enthält hingegen inaktivierte Viren, die sich nicht mehr im menschlichen Körper vermehren können. Auch diese Impfung schützt dann vor Symptomen. Aber bei einer Infektion mit dem Wildtyp-Virus können sich diese im Magen-Darm-Trakt vermehren und ausgeschieden werden. Infizierte sind dann, ohne es zu merken, für andere ansteckend.
Impfstatus prüfen
Die letzte in Deutschland erworbene Erkrankung an Poliomyelitis durch Wildviren sei 1990 erfasst worden, so das RKI. Die letzten beiden importierten Fälle wurden den Angaben zufolge 1992 registriert. Poliomyelitis ist eine hochansteckende Krankheit, die bei nicht ausreichend immunisierten Menschen zu dauerhaften Lähmungen führen kann.
Polio wird auch Kinderlähmung genannt, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass der Kontakt damit meist schon im Kindesalter erfolgte. Vor allem Kleinkinder waren von den poliotypischen Lähmungen betroffen - meist mit bleibenden Schäden fürs ganze Leben. Eine Therapie gibt es bisher nicht.
Säuglinge, so die Empfehlung der Ständigen Impfkommission des Robert-Koch-Instituts, sollten die Erst-Impfung erhalten. Zwischen 9 und 16 Jahren sollte dann eine Auffrischung passieren, so Andreas Wieser: "Wenn Erwachsene einmal grundimmunisiert wurden und nicht wissen, wann sie zuletzt aufgefrischt wurden oder die Auffrischung vielleicht auch übersehen wurde, muss man diese Grundimmunisierung nicht wiederholen, sondern dann einfach noch eine Auffrischungsimpfung machen". Die Virus-Funde im Abwasser seien daher ein guter Anlass, so Reiner Gosert, seinen Impfstatus zu überprüfen.
Monitoring des Abwassers effektiv, aber nicht allumfassend
Das Monitoring des Abwassers, das auch die jetzigen Virenfunde ermöglicht hat, funktioniert gut. Darin sind sich alle Wissenschaftler einig. Auf Chemikalien hin werde schon lange das Abwasser analysiert, so Andreas Wieser. Seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 auch auf Erreger hin.
Der Vorteil: Es wird so jede Person geprüft, und das anonym: "Wir haben inzwischen unsere Palette der Krankheitserreger, die wir untersuchen, stark ausgeweitet und gewinnen sehr viel Erfahrung, welche von diesen Erkrankungen beispielsweise im Abwasser gut untersucht werden können und welche nicht."
Denn es gibt auch Erreger, die nicht oral oder fäkal ausgeschieden werden und somit nicht ins Abwasser gelangen. Aber das Beispiel Polio zeigt, wie gut das Monitoring klappt - und auch dass die Impfung wirkt. Denn die Personen, so Wieser, die das impfabgeleitete Virus ausscheiden, haben offensichtlich keine Symptome, sind also nicht krank. Sie werden daher auch nicht behandelt und keine Fälle gemeldet. Dennoch schlage das Abwasser-Monitoring an. Jetzt könne man die Gesundheitsbehörden und Ärzte sensibilisieren, genauer auf den Impfstatus und Symptome zu achten.
Matrix der Ausscheidungen
Die Suche nach Erregern im Abwasser der Kläranlagen ist allerdings nicht einfach. Vielerorts sind die menschlichen Ausscheidungen nur ein kleiner Teil der Mengen, die in der "Matrix" des Abwassers der Kläranlagen landen. Darin sind Einleitungen der Industrie, des Gewerbes, aber auch das Brauchwasser der Haushalte.
Daher, so Wieser, "muss man sehr genau wissen, wie man sucht, was man sucht und wie man das Ergebnis dann interpretieren muss." Das geschieht dann, so Roman Wölfe, mittels PCR und Genomsequenzierung und sei ein nützliches Verfahren. Aber der Nachweis von Erbgut eines Erregers bedeute nicht automatisch, dass man Herkunft oder Ausbreitungswege des Erregers nachweisen kann.
Das Abwasser kann von mehreren tausend Menschen stammen und man weiß erst mal nichts darüber, wo diese Menschen herkommen oder wo sie sich angesteckt haben. Um das herauszufinden, sind weitere epidemiologische Studien nötig.
Weitere Überprüfungen
Laut RKI kann mithilfe der Nachweise nicht sicher gesagt werden, ob Polioviren innerhalb von Deutschland zirkulieren oder ob sie ausschließlich von Menschen ausgeschieden wurden, die sich außerhalb von Deutschland infiziert haben. "Es ist jedoch denkbar, dass Menschen hierzulande die Viren weitergeben und - sofern ungeimpft - einzelne von ihnen auch an einer Poliomyelitis erkranken", hieß es. Das RKI teilte mit, die Landesbehörden aller Bundesländer über die weiteren Nachweise informiert zu haben.