Kinder in der Grippewelle Warum es keine STIKO-Impfempfehlung gibt
Fast jedes vierte Kind in Deutschland leidet laut RKI zurzeit unter grippeähnlichen Symptomen. Die Ständige Impfkommission empfiehlt eine Influenza-Impfung nur wenigen - viele Kinderärzte impfen trotzdem.
Die aktuelle Influenzawelle zieht sich durch alle Altersgruppen, auch Kinder und Jugendliche sind davon nicht ausgenommen. Rund elf Prozent der 0-14-Jährigen leiden unter einer Atemwegserkrankung und entwickeln dabei auch Fieber. Auch wenn das nur ein Näherungswert ist, weil bei Minderjährigen oft keine detaillierte Diagnostik gemacht wird: Selbst während der heftigen Grippewelle 2017/18 war die Rate niedriger, sie lag zwischen acht und neun Prozent.
Kinder können das Virus verbreiten
Dennoch spricht die STIKO sich nicht ausdrücklich dafür aus, immungesunde Kinder und jüngere Erwachsene gegen die Influenza zu impfen. Sie rät lediglich Älteren und anderen vulnerablen Gruppen dazu, sich impfen zu lassen. Anders als bei Covid-19 haben Kinder, die mit Influenza infiziert sind, allerdings eine deutlich höhere sogenannte Secondary Attack Rate als Erwachsene. Das heißt: Sie stecken wesentlich mehr andere Menschen an. Und: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist ein Drittel der infizierten Kinder ansteckend, obwohl sie keine Symptome entwickeln.
Wer mit Fremdschutz argumentiere, müsse dagegen aber auch sehen, dass gerade in den vulnerablen Gruppen viele nicht geimpft sind, meint Fred Zepp, STIKO-Mitglied und ehemaliger Leiter der Kinderklinik des Universitätsklinikums Mainz. Selbst im Pandemiewinter 2020/21 hat sich laut RKI nicht einmal jeder zweite über 60-Jährige immunisieren lassen. Und auch beim Pflegepersonal, das mit vulnerablen Gruppen arbeitet, werde die Impfung nur wenig angenommen, obwohl eine Lancet-Studie zeigt, dass die Sterblichkeit durch Influenza in Krankenhäusern durch die Impfung reduziert wird.
Fremdschutz allein für STIKO kein Argument
"Die Impfung von Kindern primär mit dem Ziel, Dritte zu schützen, kann unter Umständen gerechtfertigt sein, etwa bei immundefizienten Familienmitgliedern", sagt Zepp. "Eine Impfung eines Kindes, allein um gesamtgesellschaftlich ökonomische Belastungen zu reduzieren, ist hingegen ethisch bedenklich." Manche Länder handhaben das allerdings anders. Laut des European Centre for Disease Prevention and Control impfen Finnland und Großbritannien zum Beispiel Kinder in unterschiedlichen Altersgruppen.
Und auch die STIKO selbst hatte bei ihrer Empfehlung für die Windpocken-Impfung im Jahr 2004 noch mit dem Fremdschutz argumentiert - auch, um infizierte Eltern vor Arbeitsausfällen zu bewahren. STIKO-Mitglied Zepp schränkt allerdings ein, das sei nur ein Teil der Argumentation gewesen. Ausschlaggebender waren ihm zufolge schwere Komplikationen wie lebensbedrohliche Gerinnungsstörungen, die es laut RKI bei mit Windpocken infizierten Kindern gar nicht so selten gegeben habe.
Es geht der STIKO also um einen grundsätzlichen individuellen Benefit für die Kinder, weil die Impfung eine medizinische Intervention darstelle. Und da argumentiert sie ähnlich zurückhaltend wie bei der Covid-Impfung: Schwere Verläufe und Folgeerkrankungen seien bei Kindern selten. Eine Studie aus dem Jahr 2012 zeigt aber auch, dass eine Grippeschutzimpfung die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind auf Grund einer Influenza intensivstationär behandelt werden muss, um 74 Prozent verringert.
Akute Überlastung in der Kindermedizin
Und auch mit einer normal verlaufenden Grippe landen viele Kinder beim Arzt - und stoßen aktuell auf überfüllte Wartezimmer wegen überdurchschnittlich hoher Infektionszahlen. Besonders problematisch ist die Situation in den Kinderkrankenhäusern, die in den vergangenen Wochen mehrfach wegen akuter Überlastung Alarm schlugen. In dieser Ausnahmesituation machen sich auch statistisch gesehen selten vorkommende schwere Verläufe bei Kindern bemerkbar.
Viele Kinderärztinnen und -ärzte impfen deshalb auch ohne STIKO-Empfehlung. Martin Terhardt, selbst STIKO-Mitglied und Kinderarzt in Berlin, sagt: "Kinder scheinen besonders betroffen zu sein. Insofern macht es in dieser Saison deutlich mehr Sinn, Eltern aufzufordern, ihre Kleinkinder gegen Influenza zu impfen." Rechtlich ist das unproblematisch, weil der Totimpfstoff gegen Influenza auch für Menschen ab sechs Monaten zugelassen ist, und die meisten Krankenkassen bezahlen die Injektions-Impfung für alle Altersgruppen. Alternativ gibt es eine Impfung per Nasenspray, die die Kassen allerdings nur in Ausnahmefällen finanzieren.
Wirksamkeit der Impfung schwankt
Doch STIKO-Mitglieder wie Zepp argumentieren auch mit der schwankenden Effektivität der Influenza-Impfung - sie liegt je nach Saison zwischen 20 und 60 Prozent. Weil das Virus sich ständig verändert, muss der Impfstoff jedes Jahr aufs Neue angepasst werden, und oft ist schwer absehbar, welche Varianten zirkulieren. "Für Kinder und Jugendliche mit besonderen Erkrankungsrisiken ist ein Infektionsschutz von vielleicht nur 30 Prozent immer noch ein Vorteil", sagt Zepp. Die Allgemeinheit der Kinder könne dann aber nur begrenzt profitieren. Und auch eine Herdenschutz-Wirkung sieht Zepp infrage gestellt.
Das sehen Forschende der Universität Oxford anders. In einer Simulationsstudie aus dem Jahr 2012 rechneten sie mit einer Wirksamkeit der Impfung zwischen zehn und 80 Prozent. Mindestens 1200 Fälle, im Bestfall sogar 53.000, könnten nach ihrer Modellierung durch ein Impfprogramm bei Kindern verhindert werden. Der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC zufolge verhinderte die Impfung in der Influenza-Saison 2019/20 etwa 6300 Tote in den Vereinigten Staaten. Allerdings sind in den USA fast die Hälfte aller Menschen geimpft, sowohl Kinder wie auch Erwachsene. In Deutschland ließ sich nach Daten der Techniker Krankenkasse zuletzt nur jeder fünfte impfen.
Impfempfehlung derzeit kein STIKO-Thema
Tatsächlich scheinen die Hersteller in der aktuellen Saison eine Art Treffer gelandet zu haben, was den Erreger angeht: Für einen Teil der Influenzaviren, die Influenza-A-Viren, war der Impfstoff im Tierversuch offenbar überdurchschnittlich wirksam, für den anderen Teil, die Influenza-B-Viren, stehen die Ergebnisse noch aus.
Völlig aus der Luft gegriffen ist die Frage nach einer allgemeinen Impfempfehlung gegen Influenza auch in Deutschland allerdings nicht. Vor einigen Jahren hatte die STIKO bereits einmal beraten. Kurz vor der Corona-Pandemie wollte das ehrenamtliche Gremium dann erneut zusammenkommen, doch die Pandemie verbrauchte so viele Ressourcen, dass für weitere Beratungen keine Zeit mehr geblieben sei. Um eine allgemeine Impfempfehlung für diese Saison auszusprechen, sei es jetzt zu spät. Der Winter allerdings hat gerade erst begonnen.