Konferenz Arctic Frontiers "Die Arktis verliert ihren Schutzschild"
Das arktische Eis schmilzt schneller als gedacht. Über die Folgen debattieren Experten auf einer Konferenz im norwegischen Tromsö. Warum die Lage trotzdem nicht ausweglos ist, erklärt Meeresbiologin Boetius im Interview.
tagesschau.de: Bei der Konferenz geht es darum, wie der Klimawandel die Arktis verändert. Wie sehen die Auswirkungen aus?
Antje Boetius: Die sind recht dramatisch, so sagen es alle hier. Ob es die Vereinigung der Bürgermeister der Arktis ist, ob es die Vertreterinnen und Vertreter der indigenen Völker sind, ob Wissenschaft oder Politik - alle sind sich einig: Keine andere Region der Erde steht vor solchen Herausforderungen, denn die Erderwärmung schreitet hier drei- bis viermal so schnell voran wie im Rest des Planeten.
Und das merkt man bei Eis und Schnee, bei Extremwettern oder bei der Frage nach den Chancen der jungen Generation. Die Frage ist: Wie geht man damit um, dass diese Krise überall zu merken ist und alle betrifft?
13 Prozent weniger Meereis pro Dekade
tagesschau.de: Was bedeutet es, wenn das Meereis zurückgeht?
Boetius: Es ist ja ganz einfach vom All aus zu beobachten, wie der Planet Erde sein arktisches Schutzschild verliert. Diese weiße Fläche kühlt unseren Planeten. Und wir haben gerade die Doppelkrise: Nicht nur das arktische Meereis schwindet mit 13 Prozent pro Dekade - was bedeutet, wir sind die erste Generation, die wahrscheinlich einen eisfreien Sommer erleben wird in der Arktis. Sondern wer sich die Antarktis anschaut, sieht: Seit fünf Jahren geht auch dort das Meereis enorm zurück. Und das ist natürlich besorgniserregend.
Und dann kommen die Eisschilde Grönlands: Die Eismassen dort erhöhen den Meeresspiegelanstieg und das betrifft die ganze Welt. Von den acht Milliarden Menschen auf dem Planeten wohnt die Hälfte in der Nähe von Küsten, oft ohne Deich. Und die Eismassenverluste steigen und steigen, sodass wir auch die Meeresspiegelanstiege nachkorrigieren müssen. Das bedeutet, die Arktis ist nicht nur ein ferner Ort, wo irgendetwas Seltsames passiert, was uns nichts angeht. Es geht alle an, es geht die ganze Welt an, was hier passiert.
Lösungen und Anpassungen
tagesschau.de: Wenn dieser weiße Schutzschild weniger wird - erwärmt sich dadurch unsere ganze Erde noch viel schneller als gedacht?
Boetius: Wir können diese Veränderungen ganz gut simulieren und vorhersagen. Es gibt aber auch Aspekte der Geschwindigkeitszunahme des Eisverlustes, die schwer vorherzusagen sind, oder die Wirkung auf Ozeane und das Leben der Menschen. Wir versuchen alles, um als Forschung nachzusteuern, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie viel Wissen es braucht, um bessere Vorhersagen zu machen. Das haben wir uns vorgenommen. Aber es geht natürlich auch um Lösungen und Anpassungen, und die werden hier diskutiert.
tagesschau.de: Welche Lösungen würde es denn geben?
Boetius: Lösung Nummer eins bleibt der schnelle Ausstieg aus fossilen Energieträgern. Das ist hier auch ein großes Thema. In der arktischen Region ist das auch erkannt. Aber natürlich kommt viel von unserem Wohlstand aus Gas und Öl. Die Energiepreise und die Gewinne sind so groß wie nie zuvor durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Und gleichzeitig versuchen alle, die hier sind, einen Umbau und versuchen Klarheiten zu schaffen, wie das geht. Und wie man die Infrastruktur daran anpassen kann, dass es keinen festen Untergrund mehr gibt, weil er bisher gefroren war und jetzt schmilzt. Oder daran, dass es wirklich enorme Extremwetter gibt. Also es geht auch um Anpassung hier.
"Es ist nicht zu spät"
tagesschau.de: Wie groß ist denn der Wille zur Anpassung?
Boetius: Hier sind ja nicht nur Forschung und Politik vertreten, sondern auch die Wirtschaft und NGOs. Alle tragen zusammen, was es eigentlich bräuchte, und dabei kommt immer wieder raus: Es geht nur mit internationaler Kooperation. Und auch wenn die Zahlen furchtbar sind: Es ist nicht zu spät, ins Handeln zu kommen. Es muss nur schnell gehen, es muss klar sein und es geht nur in Zusammenarbeit.
Das ist eine ganz wichtige Nachricht, die hier auch gesetzt wird. Denn der arktische Raum ist ein Raum von einzigartiger Lebensvielfalt. Manche Dinge kann man nicht zurückdrehen und das ist der Verlust von Arten. Und deswegen spielt auch gerade hier nicht nur der Klimaschutz, sondern auch der Naturschutz eine ganz große Rolle.
Schwierigkeiten durch Russland-Ausschluss
tagesschau.de: Gleichzeitig sind einige Industrienationen vielleicht nicht unglücklich, wenn das Eis schmilzt? Der Weg zu Rohstoffen könnte einfacher werden. Es könnte neue Handelswege geben und man könnte vielleicht auch noch an Fischgründe kommen, die bisher unter einem dicken Eispanzer lagen.
Boetius: Das ist eine gewagte Hypothese, wenn man von der Wirtschaft hört, wie schwierig es ist, mit dünner werdendem, schnell driftendem und sich verschiebendem Eis überhaupt diese Seewege zu planen. Es gibt hier niemanden, der sich als Gewinner des Klimawandels fühlt. Die Zusammenarbeit in der Arktis hat ja bisher nicht nur auf endlose Ausbeute gesetzt. Es ist im Arktischen Rat erstmals gelungen, die Fischgründe ab einer gewissen Wassertiefe zu schützen.
Es ist auch unter ganz harten Sicherheitsvorkehrungen überhaupt nur Seefahrt hier möglich. Und es geht weiterhin darum, wie die Zusammenarbeit gelingen kann. Leider muss man sagen: in Abwesenheit Russlands. Denn die Sanktionen, die alle gemeinsam beschlossen haben, bedeuten, dass es derzeit keine Kooperation und damit leider auch keine Abstimmung mit Russland gibt.
Forschung spielt eine große Rolle
tagesschau.de: Wie schwierig ist es denn, zu einer Einigung zu kommen, wenn Russland - ein wichtiger Arktis-Anrainer - nicht mitmachen kann?
Boetius: Es gibt hier sehr viele Aussprachen dazu, dass dieser notwendige, aber doch für uns alle teure Entschluss die arktische Region zurückwirft. Russland ist ja derzeit Vorsitzender des Arktischen Rats - das Format ist aber ausgesetzt. Die anderen Länder beteiligen sich nicht, als ganz klare Haltung gegen den Angriffskrieg. Aber es kostet, eben weil die Klimakrise ein so großes globales Problem ist, dass vor dem Krieg nicht vorstellbar war, dass überhaupt die Kooperation schwächer wird. Sie hätte stärker werden müssen und jetzt ist sie deutlich schwächer.
Das bedeutet: Die anderen Länder müssen stärker zusammenarbeiten. Und darum geht es hier. Alle Vorträge weisen darauf hin, dass ganz neue Kooperationsformen gesucht werden in dem Raum um die Arktis herum. Und da bin ich froh, dass die Forschung eine große Rolle spielt. Deutschlands Entscheidung, die "Polarstern 2" zu bauen, wird hier immer wieder genannt. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit. Und darum geht es hier vor allen Dingen: Wie können wir stärker werden, wenn wir irgendwo doch schwächer geworden sind ohne Russland?
tagesschau.de: Die "Polarstern 2" ist das neue deutsche Forschungsschiff. Warum ist es so wichtig in der Kooperation der Wissenschaften?
Boetius: Die "Polarstern 2" ist das Nachfolgeschiff zur "Polarstern" und noch immer ein Konzeptschiff, was gerade europäisch ausgeschrieben ist. Es ist ein Schiff, das uns erlaubt, den arktischen Tiefseeboden zu vermessen und herauszukriegen, wie unglaublich vielfältig dieser Lebensraum ist. Bisher konnte man nicht so gut unter dem Eis tauchen. Jetzt gibt es ja Roboter an Bord, die das können. Und deswegen gewinnen wir ganz neue Erkenntnisse, etwa welche Bereiche der Arktis besonders sensitiv sind. Wo herrscht eine einzigartige Lebensvielfalt, die man nirgends woanders auf dem Planeten findet? Und dieses Wissen tragen wir bei. Für die künftige Raumplanung, für das künftige Anliegen, die Arktis zu schützen.
Hoffnung durch neue Formen der Kooperation
tagesschau.de: Wenn Sie als Meeresbiologin jetzt diese Konferenz verfolgen, sind Sie dann guter Dinge?
Boetius: Ja, denn das Bekenntnis zur Zusammenarbeit, das hört man hier überall. Und es gibt neue Formen der Kooperation - wie die Konferenz der arktischen Bürgermeister. Auch Vertreter der indigenen Völker sind sehr klar, wie sie sich engagieren wollen, um ihr Wissen zum Umgang mit der Natur beizutragen, was ja Jahrtausende alt ist.
Das gibt Hoffnung, weil dieser Ruck eben durch die Gemeinde geht: Wir Menschen können planen, wir können strategisch handeln, wir müssen nicht die Zerstörer sein. Ich gebe zu, ich bin Grundoptimist, die Daten und Zahlen sind schon hart. Und man muss ehrlich sagen: Wir müssen Lösungen finden für die Extremwettersituationen, die alle Länder rund um die Arktis und viel weiter weg auch treffen. Grönland ist am Ende auch entscheidend für Polynesien, so arg ist das mit dem Meeresspiegelanstieg. Und dieses neue Gefühl der globalen Vernetztheit muss sich im politischen Handeln niederschlagen.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.