Diskussionspapier Leopoldina "Die Politik verhakt sich im Kleinklein"
Die Politik streitet über Einzelheiten der Energiewende. Forschende der Leopoldina wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm fordern, schnellstmöglich Technologien zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen - und das europaweit.
tagesschau.de: Frau Grimm, eigentlich sollte das Diskussionspapier mit dem Titel "Den kritischen Zeitpunkt nicht verpassen", das Sie zusammen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern formuliert haben, ein bisschen später erscheinen. Jetzt aber haben Sie es früher rausgegeben - warum?
Veronika Grimm: Wir haben uns gedacht, aktuell drängt die Zeit, um tatsächlich die Klimaschutzziele zu erreichen. Gleichzeitig hat man das Gefühl, die Politik verhakt sich doch sehr stark im Kleinklein. Es wird um Einzelheiten der Energiewende gestritten. Es wird darüber gesprochen, auch bestimmte Lösungsoptionen auszuschließen. Ich glaube, das muss uns doch zu denken geben. Es geht darum, Technologien schnell zu entwickeln, zur Verfügung zu stellen und vor allen Dingen europaweit zu kooperieren. Und diesen Punkt wollten wir machen, auch jetzt bei der Kabinettsklausur in Meseberg.
Sechs Punkte für eine Energiewende
tagesschau.de: Für dieses Papier haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen sechs Punkte herausgearbeitet. Lassen Sie uns genauer hinsehen: Welche sind die wichtigsten Punkte?
Grimm: Wir haben noch viel vor beim Klimaschutz. Es startet jetzt die Phase, wo es auch einen umfassenden Strukturwandel geben wird, wo vieles anders gedacht, anders aufgestellt werden muss im Rahmen der Umstellung auf klimaneutrale Produktionsverfahren zum Beispiel in der Industrie. Und man sieht das ja auch schon: Es gibt doch viele Unternehmen, die sich angesichts der Energiekrise Gedanken machen, wie Geschäftsmodelle in die Zukunft geführt werden können. Es ist so, dass sich aktuell noch mal Druck entfaltet. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine verändert sich das geopolitische Umfeld sehr stark, was noch mal dazu führen wird, dass Abhängigkeiten hinterfragt werden müssen und dass es auch noch ein bisschen schwieriger wird, Dinge tatsächlich umzusetzen, so wie man sich das vorgestellt hat.
Weltweiter Wasserstoffhandel
tagesschau.de: Lassen Sie uns auf das Thema Wasserstoff ein bisschen genauer gucken. Welche Ideen gibt es dazu in dem Papier?
Grimm: Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung befindet sich aktuell in Überarbeitung. Zunächst ist es so, dass wir im Koalitionsvertrag schon gesehen haben, dass die eigenen Kapazitäten zur Erzeugung grünen Wasserstoffs hochskaliert wurden, also zehn Gigawatt Elektrolyse Kapazitäten in Deutschland vorgesehen werden. Damit kann man ungefähr 30 Terawattstunden Wasserstoff pro Jahr herstellen. Wir brauchen aber zusätzlich grünen Wasserstoff. Wir brauchen mehr, als wir perspektivisch im Jahr 2030 selber herstellen werden. Und das müssen wir importieren.
Um diesen weltweiten Handel zu initiieren, braucht es sicherlich auch staatliches Handeln, um Großprojekte zu initiieren. Da braucht es langfristige Bezugsverträge mit unter Umständen staatlichen Garantien und den Aufbau von Infrastrukturen, Schiffe, Hafenanlagen, eben auch Pipelines. Und man muss sich sehr genau überlegen, dass man nicht im Zuge dieser Umstellung des Handels mit Energie weltweit wieder in neue Abhängigkeiten gerät. Also man sollte schauen, dass man die Staaten sondiert, aus welchen Staaten man importieren kann und dass man sich nicht nur auf die günstigsten fokussiert, die das jetzt am günstigsten anbieten können.
Auch Gaskraftwerke spielen weiterhin eine Rolle
tagesschau.de: Ein weiterer Punkt sind die Gaskraftwerke, die weiter gestärkt werden sollen - so steht es im Papier. Was ist damit gemeint?
Grimm: Wenn wir im April wohl aus der Atomenergie aussteigen und auch noch bis 2030, so wie es im Koalitionsvertrag niedergelegt ist, aus der Kohle - dann müssen wir jetzt sehr schnell neue Kapazitäten an Gaskraftwerken bauen. Es muss überlegt werden, wo können die überhaupt stehen, wie werden sie angebunden und wie sorgen wir auch dafür, dass diese Gaskraftwerke nicht dauerhaft mit Gas betrieben werden können. Diese müssten dann mittelfristig auf Wasserstoff und erneuerbare Energieträger umgestellt werden können. Denn wir wollen ja bis 2035 ein klimaneutrales Stromerzeugungssystem haben. Und das bedeutet, dass diese Gaskraftwerke, die die Lücken füllen, also wenn die fluktuierenden Erneuerbaren eben nicht zur Verfügung stehen, dann brauchen wir ja einlassbare Kraftwerke, die diesen Job übernehmen und dann den Strom erzeugen. Und damit das Stromsystem klimaneutral ist, müssen eben diese Gaskraftwerke mit klimaneutralen Energieträgern betrieben werden.
Die Energiewende muss in der Gesellschaft akzeptiert werden
tagesschau.de: Wie wollen Sie diese komplizierten und schwierigen Themen als Diskurs in die Gesellschaft bringen? Denn die Akzeptanz spielt ja auch eine Rolle?
Grimm: Es geht nicht nur darum, ob technisch theoretisch irgendwas möglich wäre, wenn denn genügend Rohstoffe und wenn denn genügend Fachkräfte zur Verfügung stünden, sondern es geht darum, ob es in unserer Gesellschaft mit der Governance, die wir uns gegeben haben und im Föderalismus auch umsetzbar ist. Und dafür brauchen wir sehr, sehr viele Disziplinen an Bord, die verschiedene Aspekte beleuchten. Wir müssen uns, glaube ich, klarmachen, dass in der aktuellen Welt, in der die geopolitische Lage sich sehr stark ändert, wir Abhängigkeiten auf allen Ebenen, in der Lieferkette auch mitdenken müssen. Wir müssen diese Abhängigkeiten Stück für Stück abbauen und und Optionen offenhalten, wenn diese Abhängigkeiten uns mal auf die Füße fallen und bestimmte kritische Rohstoffe nicht zur Verfügung stehen aufgrund von Sanktionen zum Beispiel.
Wir müssen, wenn wir unseren Klimaschutz betreiben, wenn wir unsere Energiewende betreiben, noch immer so agieren, dass wir international als Vorbild angesehen werden, also dass wir beweisen, dass man eben Klimaschutz und Wohlstand in einer Gesellschaft verbinden kann. Und dazu gehören einfach immer viele Disziplinen. Die Leute müssen die Wege mitgehen, es muss Akzeptanz geben und die Dinge müssen auch in unserer demokratischen Grundordnung realisierbar sein.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.