Erdüberlastungstag "Es besteht Hoffnung, aber es gibt nichts schönzureden"
Jahrzehntelang wuchs der globale ökologische Fußabdruck. Jetzt scheint der Trend gestoppt. Dahinter steckt einerseits der Markt, sagt der Gewässer-Ökologe Klement Tockner - aber auch anspruchsvolle Nachwuchs-Fachkräfte.
tagesschau.de: Professor Tockner, die Menschheit lebt, als hätte sie 1,7 Erden zur Verfügung. Dieser "globale Fußabdruck" ist seit den Siebziger Jahren lange gewachsen. Jetzt scheint er zumindest stabilisiert. Ist das ein Grund für vorsichtigen Optimismus?
Klement Tockner: Ja, Hoffnung besteht. Aber es gibt nichts schönzureden. Die Situation ist gravierend. Auch wenn sich der Overshoot Day jetzt Anfang August einzupendeln scheint, heißt das ja trotzdem noch, dass wir die natürlichen Ressourcen bei weitem übernutzen. Was diese Berechnung der Erdüberlastung zudem nicht berücksichtigt: Viele Änderungen, die wir sehen, sind ja eben gerade nicht umkehrbar.
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Das erste ist der Verlust an Arten oder an biologischer Vielfalt. Einmal verloren ist im Grunde für immer verloren - das ist nicht revidierbar. Das zweite Beispiel betrifft die fossilen Brennstoffe. Innerhalb von 15 Menschengenerationen haben wir fossile Brennstoffe aus dem Boden geholt - Kohle, Öl, Gas - wofür zig Millionen Jahre notwendig waren, um diese zu bilden.
Das heißt, die kommenden Generationen haben keine fossilen Quellen, auf die sie zurückgreifen können. Und um diese wieder aufzubauen, benötigt es wieder zig Millionen Jahre. Wir verbrauchen gerade die gesamten fossilen Ressourcen, die wir langfristig benötigen würden.
Professor Klement Tockner ist Gewässer-Ökologe und seit 2021 Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Zuvor war er Professor für Aquatische Ökologie an der Freien Universität Berlin und Direktor des Leibniz Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin
Der globale Fußabdruck
tagesschau.de: Berechnet wird der Erdüberlastungstag vom "Global Footprint Network". Die Idee dahinter ist, das komplizierte Zusammenspiel zwischen Natur und Mensch, zwischen Wäldern, Unternehmen, Böden und der Atmosphäre, auf eine einzige griffige Zahl zu bringen - eben den globalen Fußabdruck. Und davon abgeleitet, auf einen globalen "Erdüberlastungstag". Wie blicken Sie als Wissenschaftler darauf - ergibt das Sinn?
Tockner: Ich glaube, es sensibilisiert die Leute, weil es zeigt, dass wir eben weit über unsere Verhältnisse leben. Aber es gibt dahinter tatsächlich positive Entwicklungen. Um nur eine Zahl zu nennen: 87 Prozent der weltweit neu gebauten Kraftwerke und Anlagen im Jahr 2023 waren erneuerbar. Das haben viele noch vor zehn oder 20 Jahren für undenkbar gehalten.
Ressourcen werden knapp und teuer
tagesschau.de: Ist das der Hauptgrund dafür, dass sich der globale Fußabdruck nun zumindest langsam stabilisiert?
Tockner: Grundsätzlich sehe ich zwei Entwicklungen: Erstens werden Ressourcen einfach teurer. Das gilt für fossile Rohstoffe, in dem Fall auch maßgeblich über die Politik gesteuert, Stichwort CO2-Preis - aber auch zum Beispiel für Sand oder Schotter, die global knapper und deshalb teurer werden. Teilweise wird das also über den Markt reguliert. Und, zweitens bin ich überzeugt, dass es allgemein ein Umdenken gibt.
So beispielsweise in meinem Forschungsbereich: Gewässer. Wasser ist eine Ressource, die für uns Menschen überlebensnotwendig ist. Gleichzeitig zählen Gewässer zu den wertvollsten Ökosystemen. Der Weg, den wir gehen müssen, ist weg von einem Konflikt hin zu Synergien - nämlich dass wir Gewässer als Ökosysteme und Wasser als Ressource gleichzeitig erhalten können.
tagesschau.de: Haben Sie ein Beispiel?
Tockner: Die Renaturierung von Flussauen. Damit verbessern wir den ökologischen Zustand der Auenlandschaften, schützen uns gegen die Schäden von Hochwassern und reichern das Grundwasser in den Flusslandschaften an, das wiederum für uns als Trinkwasser zur Verfügung steht. Da sind Schutz des Menschen und Schutz der Natur kein Widerspruch, sondern gehen Hand in Hand.
"Auch die Kunden pochen auf Nachhaltigkeit"
tagesschau.de: In Sachen Nachhaltigkeit verändert sich also zumindest in einigen Bereichen etwas zum Besseren. Würden Sie sagen, dahinter stehen in erster Linie große Weichenstellungen der Politik oder von Unternehmen oder die Entscheidungen von Konsumentinnen und Konsumenten?
Tockner: Es ist wahrscheinlich eine Kombination von allen dreien. Ich würde sagen, die Politik ist leider nicht mutig genug, die eigenen Entscheidungen, die sie trifft, auch umzusetzen. Wir sehen das zum Beispiel beim Kunming-Montreal-Abkommen, auf das sich die Regierungen 2022 weltweit geeinigt haben, um die Biodiversität zu schützen.
Das ist für Artenschutz und Biodiversität genauso zentral wie das Paris-Abkommen von 2015 für den Bereich Klimaschutz. Die Weltgemeinschaft hat dort beschlossen, den Pestizideinsatz bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren, umweltschädliche Subventionen um 500 Milliarden pro Jahr zu reduzieren, außerdem 30 Prozent der Flächen unter Schutz zu stellen und Ökosysteme zu renaturieren.
Jetzt geht es darum, das auch wirklich rigoros umzusetzen. Auch die Wirtschaft hat einen großen Hebel. Aber das geht nicht allein auf Basis der Freiwilligkeit, sondern es braucht auch klare Vorgaben seitens der Politik, damit das umgesetzt wird. Im Finanz- und Wirtschaftsbereich sehen wir aber auch: Die Kundinnen und Kunden pochen verstärkt auf Nachhaltigkeit in der Produktion. Und, mindestens genauso wichtig:
Viele Menschen wollen in Betrieben arbeiten, die zukunftsorientiert handeln. Die großen Firmen oder die Banken bekommen sonst nicht mehr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sie benötigen - Stichwort Fachkräftemangel. Auch das ist ein großer Hebel.
"Lösungslabore" erforschen
tagesschau.de: Gleichzeitig gibt es aktuell eine gewissen Klima-Müdigkeit, vielleicht sogar eine gewisse Abwehr "Öko-Themen" gegenüber. Sie stehen als Wissenschaftler und Leiter einer großen Forschungseinrichtung mit genau diesen Themen in der Öffentlichkeit - wie gehen Sie damit um?
Tockner: Wir schaffen Wissen und nicht Meinungen. Und unsere Rolle als Wissenschaft ist es aufzuzeigen: Was sind die Konsequenzen unseres Handelns und was sind Lösungsoptionen? Ein konkretes Beispiel: In Ljubljana hat man vor zehn Jahren begonnen, die Innenstadt weitgehend autofrei zu machen. Damals waren 70 Prozent der Bevölkerung dagegen. Zehn Jahre später wollen 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr zurück zu dem vorherigen Zustand.
Daraus kann man lernen: Man kann auch probeweise etwas einführen, was dabei hilft, Menschen zu überzeugen. Dazu ist es aber notwendig, die Betroffenen von Beginn an einzubinden in die Entscheidungen. Auch für solche Forschung stehen wir als Senckenberg-Gesellschaft. Wir entwickeln aktuell sogenannte Lösungslabore für verschiedenen wissenschaftliche und gesellschaftliche Fragestellungen. Das sind partizipative Wege, die mehr Zeit in Anspruch nehmen. Aber die dann auch langfristiger Bestand haben.
"Wir wissen sehr genau, was gemacht werden muss“
tagesschau.de: Was wünschen Sie sich von der Politik?
Tockner: Wir müssten viel stärker in die Prävention investieren. Deutschland gibt jährlich etwa 75 Milliarden Euro für Umweltschutz aus. 94 Prozent davon gehen in die Abfallwirtschaft, in die Abwasserwirtschaft und in das Beseitigen von Umweltschäden. Und nur ein Bruchteil geht in Schutz- und Vorsorgemaßnahmen - aus meiner Sicht viel zu wenig.
tagesschau.de: Was hieße das konkret?
Tockner: Höchste Priorität muss etwa sein, die letzten naturnahen Ökosysteme unter Schutz zu stellen, zum Beispiel die letzten Wildflusslandschaften in Europa. Die gesamte Frage der Renaturierung wird im Prinzip obsolet, wenn wir gleichzeitig nicht in der Lage sind, die letzten frei fließenden Flüsse zu erhalten.
Mithilfe der Renaturierung können wir nur bis zu einem bestimmten Grad einen ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Das heißt, der Schutz hat oberste Priorität. Das zweite ist, wenn man renaturiert, dann muss man das dort tun, wo die größte Regenerationsfähigkeit vorliegt, also vor allem größere zusammenhängende Ökosysteme renaturieren. Ein Beispiel wäre die Wiedervernässung von Moorgebieten. Im Prinzip wissen wir sehr genau, was gemacht werden kann und muss.
Unternehmensrisiko Artensterben
tagesschau.de: Haben Sie die Sorge, dass ökologische Themen aktuell angesichts anderer Konflikte, Kriege oder Themen wie Inflation gesellschaftlich hinten runterfallen?
Tockner: Ich hoffe nicht. Beim Thema Wasser wäre das beispielsweise fatal. Wir sehen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren immer mehr Fälle, wo Wasser Ursache von Konflikten ist, wo Wasser als Waffe eingesetzt wird in Konflikten und wo Wasser Konflikten zum Opfer fällt. Die geopolitischen Spannungen sind eng gekoppelt mit den Spannungen und Herausforderungen, die wir im Umweltbereich haben.
Das World Economic Forum, wo sich jedes Jahr die Wirtschafts-Größen treffen, sieht Umweltkrisen auf der Liste der weltweiten Bedrohungen auf den vordersten Plätzen: Der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität oder der drohende Kollaps ganzer Ökosysteme.
"Ohne gesetzliche Vorgaben wird es nicht gehen"
tagesschau.de: Ist die Wirtschaft weiter als die Politik?
Tockner: Die Wirtschaft ist sich der Dringlichkeit voll bewusst. Alle großen Unternehmen haben Nachhaltigkeitsbüros aufgebaut und beschäftigen sich mit diesen Themen. Aber noch einmal: Ohne gesetzliche Vorgaben wird es nicht gehen. Für jedes schmutzige Geschäft findet sich sonst im Endeffekt ein Investor. Und zugleich ist die große Frage: Wie kann Prävention zu einem wirklich ertragsreichen Geschäftsmodell werden?
Es muss ein Umdenken geben in den Anreiz- und Belohnungssystemen. Beim Klima kann man über die CO2-Bepreisung gehen, und das passiert ja auch schon. Im Biodiversitätsbereich ist es ein bisschen komplizierter, weil wir nicht diese eine Währung haben. Aber es gibt Möglichkeiten. Man kann zum Beispiel auch Landnutzungsänderungen quantifizieren und messen.
Bei der Biodiversität kommt hinzu, dass es einen viel größeren emotionalen Aspekt gibt. Und es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Biodiversität und der menschlichen Gesundheit, sei es die mentale oder die physische Gesundheit. Studien, die wir bei Senckenberg durchgeführt haben, zeigen beispielsweise, dass eine höhere Vogelvielfalt in der Umgebung zu einer Zunahme des Wohlbefindens führt.
Und natürlich brauchen wir Biodiversität für gesunde Lebensmittel. Und in diese Richtung muss es gehen: Dass wir Synergien finden zwischen dem Wohlbefinden des Menschen und einer vielfältigen Natur. Eine weitgehend intakte Natur ist unsere wichtigste Lebensversicherung, ja sogar Überlebensversicherung.
Das Interview führte Judith Kösters, hr