Krieg im Gazastreifen Erster Polio-Fall - Rufe nach Waffenruhe
Im Gazastreifen verschärft sich die humanitäre Situation. Nach dem ersten Polio-Fall warnen Hilfsorganisationen vor massenhaften Ansteckungen. Für Impfungen braucht es laut WHO eine Waffenruhe - doch die Kämpfe gehen weiter.
Die Verhandlungen über eine Waffenruhe im Nahost-Krieg sollen nächste Woche fortgesetzt werden. Das heißt auch: Die Kämpfe im Gazastreifen zwischen israelischer Armee und Hamas-Terroristen gehen weiter, genauso wie der gegenseitige Beschuss zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz an der israelisch-libanesischen Grenze.
Bei einem israelischen Luftangriff im Südlibanon gab es nach libanesischen Behördenangaben mindestens zehn Tote, darunter eine Frau und zwei Kinder. Bei den Opfern handelt es sich den Angaben zufolge größtenteils um syrische Staatsbürger. Als Reaktion feuerte die Hisbollah nach eigenen Angaben zahlreiche Raketen auf das Nachbarland ab.
Angriffe im Gazastreifen
Auch im Gazastreifen wird weiter gekämpft. Bei israelischen Angriffen im Zentrum des Küstengebiets sollen palästinensischen Angaben zufolge mindestens 17 Menschen getötet worden sein. Bei einem Luftangriff auf ein Haus in der Nähe des Flüchtlingsviertels Nuseirat, das ebenfalls im zentralen Gazastreifen liegt, seien zudem sechs Menschen ums Leben gekommen, meldete die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Israels Armee teilte mit, die Berichte zu prüfen.
Die israelische Armee forderte zudem die Anwohner mehrerer Viertel im Zentrum des Gazastreifens vor einem neuen Militäreinsatz zur Flucht auf. Sie sollten sich in ein von Israel als humanitäre Zone ausgewiesenes Gebiet begeben, hieß es in dem Aufruf, den ein israelischer Militärsprecher in arabischer Sprache veröffentlichte.
Erster Polio-Fall bestätigt
Nach zehn Monaten Krieg sind weite Teile des abgeriegelten Küstenstreifens verwüstet. Die Lage für die Zivilbevölkerung ist katastrophal. Nach palästinensischen Angaben trat nun ein erster Fall von Kinderlähmung auf. Erkrankt sei ein ungeimpfter, zehn Monate alter Säugling in Deir al-Balah im Zentrum des Gebiets, teilte das Gesundheitsministerium in Ramallah mit. Dies hätten Tests in der jordanischen Hauptstadt Amman ergeben.
UN-Generalsekretär António Guterres hatte zuvor für die Impfung von Hunderttausenden Kindern gegen Polio eine Kampfpause in dem abgeriegelten Küstenstreifen gefordert. Verbreitet wird das Virus oft über verunreinigtes Wasser. Eine Heilung für Polio gibt es bisher nicht.
"Wir rechnen mit dem schlimmsten Szenario eines Polio-Ausbruchs in den kommenden Wochen oder Monaten und bereiten uns darauf vor", sagte Francis Hughes, der Gaza-Beauftragte bei CARE International, der Nachrichtenagentur AP. Bereits im Juli waren Polio-Viren im Abwasser des Gazastreifens entdeckt worden.
Brutplatz für das Virus
Polio wurde im Gazastreifen vor 25 Jahren eigentlich ausgerottet, aber seit Beginn des Krieges vor zehn Monaten wurde kaum noch geimpft. Davor waren laut WHO 99 Prozent der Bevölkerung immunisiert, jetzt sind es 86 Prozent.
Der Gazastreifen ist laut Hilfsorganisationen zu einem Brutplatz für das Virus geworden. Hunderttausende vertriebene Palästinenser drängen sich in Zeltlagern ohne sauberes Wasser oder ordnungsgemäße Abwasser- und Müllentsorgung. Manchmal wird Abwasser zum Trinken oder Reinigen von Kleidung und Geschirr verwendet. Oft gibt es keine Seife. Mindestens 225 nicht reglementierte Müllhalden und Deponien sind im Gazastreifen entstanden, viele in der Nähe von Unterkünften von Familien, so ein im Juli veröffentlichter Bericht von PAX, einer in den Niederlanden ansässigen gemeinnützigen Organisation, die dafür Satellitenbilder ausgewertet hat.
Keine Impfung im Krieg möglich
WHO und UNICEF erklärten, dass mindestens eine siebentägige Pause erforderlich sei, um die Massenimpfungen durchzuführen. "Es ist unmöglich, die Impfung in einer aktiven Kriegszone durchzuführen, und die Alternative wäre für die Kinder im Gazastreifen und der gesamten Region unvorstellbar", sagte UNICEF-Sprecher Ammar Ammar.
Polio, das hoch ansteckend ist und hauptsächlich durch Kontakt mit kontaminiertem Kot, Wasser oder Lebensmitteln übertragen wird, kann Atembeschwerden und irreversible Lähmungen verursachen, meist in den Beinen. Es betrifft besonders kleine Kinder und ist manchmal tödlich. Die einzigen Länder, in denen Polio endemisch ist, sind Afghanistan und Pakistan. Aber Ausbrüche sind auch in der kriegszerstörten Ukraine und im Jemen aufgetreten, wo die Bedingungen lange nicht so schlecht sind wie in Gaza.
Die Massenimpfungen könnten Ende August beginnen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Sprich: Wenn es eine Waffenruhe gibt. Die israelische Palästinenserbehörde Cogat teilte mit, sie bereite sich darauf vor, eine umfassende Impfkampagne zu ermöglichen. Und die Hamas erklärte am Freitag, sie würde eine siebentägige Waffenruhe unterstützen, um die Impfungen zu erleichtern.
Impfstoffe müssen gekühlt werden
Im Dezember waren noch mehr als 440.000 Dosen des Polio-Impfstoffs in den Gazastreifen gebracht wurden, der Vorrat ist aber auf etwas über 86.000 geschrumpft, wie Hamid Dschafari, WHO-Regionaldirektor für die Ausrottung von Polio, sagte.
1,6 Millionen oral zu verabreichende Dosen sollen jetzt geliefert werden. Es soll eine neue Version des Impfstoffs sein, die weniger anfällig für Mutationen ist, so die WHO. Den Impfstoff nach Gaza zu bringen, ist nur der erste Schritt. Die Kämpfe und Plünderungen von Hilfskonvois erschweren die Lieferungen. Außerdem müssen Impfstoffe gekühlt werden, was im Gazastreifen, wo der Strom knapp ist, schwierig geworden ist.
Ein weiteres Hindernis für die Impfkampagne ist, dass die Palästinenser sich im Gazastreifen nur schwer fortbewegen können, um die Impfstellen zu erreichen. WHO und UNICEF wollen aber versuchen, in alle Teile des Gazastreifens zu gelangen. 2.700 Mitarbeiter sollen dafür eingesetzt werden.