Milei auf einer Veranstaltung des CPAC in Buenos Aires (Argentinien)

Argentinien unter Milei Ein Jahr wie eine Achterbahnfahrt

Stand: 10.12.2024 06:43 Uhr

Ein Jahr unter Präsident Milei hat Argentinien verändert. Die Hyperininflation ist bezwungen, Unternehmen sprechen von mehr Aufträgen. Doch um welchen Preis? Es gibt mehr Armut und Arbeitslosigkeit - und einen Kulturkampf.

Die Kreissäge kreischt ohrenbetäubend, während sie sich durch das Aluminium fräst, am Tisch nebenan werden Glasscheiben poliert und Fenster montiert. Am Eingang seiner Werkstatt in Lanús im Großraum Buenos Aires unterhält sich Mariano Lopez mit den Kunden über Politik.

Ein Jahr ist Präsident Javier Milei im Amt. Am Ende sei es ein gutes Jahr gewesen, meint der mittelständische Unternehmer: "Wir spüren Ruhe und Zuversicht. Man sieht, es zieht an, langsam, aber ja, es wird mehr. Da ist eine Vorfreude."

Das Jahr sei einer Achterbahnfahrt gleichgekommen, sagt Lopez. Als der libertäre Präsident den Peso abwertete und Subventionen strich, hätten sich allein die Stromkosten verdreifacht. Bei ihm sowie unzähligen anderen Unternehmen brachen in den ersten Monaten die Geschäfte ein.

Vor einem Jahr stieg die monatliche Inflation laut Statistikinstitut INDEC von 12,8 Prozent auf 25,5 Prozent. Im April aber war sie bereits einstellig.

Nun verzeichnet Lopez in seinen Bilanzen erstmals wieder ein leichtes Plus. Das Land stehe langsam wieder auf, sagt er, aber diesmal auf gesunden Beinen.

Xenia Böttcher, ARD Rio de Janeiro, zur wirtschaftlichen Lage in Argentinien nach einem Amtsjahr von Milei

tagesschau24, 10.12.2024 09:00 Uhr

Zehntausende Angestellte "rausgeschmissen"

Die Ruhe, die Lopez verspürt, hat Javier Villoldo verloren. Er gehört zu den 50.000 staatlichen Angestellten, von denen Milei stolz sagt, sie "rausgeschmissen" zu haben.

Der 52-Jährige sitzt, 2.000 Kilometer weiter, im Südwesten des Landes, mit seiner Frau Silvina am alten Holztisch in der Wohnküche. Ohne Vorwarnung, ohne Übergang, ohne ein anerkennendes Wort sei seine Anstellung bei der staatlichen Post beendet worden.

Auch sieben Monaten später füllen sich die Augen noch mit Tränen: "Ich hätte niemals gedacht, dass es mir so schwer fällt, von Null anzufangen, aber ich glaube, ich habe ein wenig die Freude verloren, die ich früher hatte."

Villoldo lebt im 2.500-Seelen-Ort Corcovado, in Patagonien. Mit Leidenschaft habe er 20 Jahre die staatliche Post geführt. Das Land habe andere Regeln als die Stadt: Egal um welche Uhrzeit - Villoldo sagt, er habe immer die Türen geöffnet, für den fernen Nachbarn, der im Schneesturm geritten kam oder er habe Briefe vorgelesen für diejenigen, die nicht lesen konnten. Wahlurnen habe man ihm anvertraut sowie die Rentenauszahlungen. "Das Gesicht der argentinischen Post war ich."

Die Grenzen des Marktes

In Corcovado hat die Mehrheit Milei gewählt. "Ich hätte sogar Micky Mouse gewählt", sagt ein Anwohner, so dringend habe er den Wandel gewollt. Eine andere Bürgerin sagt: "Was keiner wollte, war, dass Javier den Job und der Ort die Post verliert."

Jetzt heißt es für alle 140 Kilometer Hin- und Rückfahrt, um zur nächsten Poststelle zu gelangen. Für einen privaten Paketdienst lohnt sich der Weg bislang nicht.

Der Markt regle nicht alles, manchmal brauche es eben den Staat, sagt Fernando Iphar, ein Holzkünstler, der sich fragt, wie er seine Arbeit in die Ferne sendet.

Javier Villoldo sagt, klar, die Technik schreite voran, es gebe E-Mails und Messengerdienste - "aber versende mal die mit Liebe gemachte Marmelade aus dem heimischen Garten an deine Kinder in der Ferne per WhatsApp".

Die Armut ist gestiegen

Ein Einkommen fehlt der Familie nun. Im Supermarkt denkt Villoldos Frau Silvina lange nach, was sie sich noch leisten kann.

Und so wie ihr geht es vielen Argentinierinnen und Argentiniern. Im ersten Halbjahr ist die Armut, die ohnehin schon bei mehr als 40 Prozent lag, auf mehr als 50 Prozent gestiegen. Benzin, Strom, Nahverkehr, Lebensmittel, Mieten - alles ist teurer geworden.

Oft kauften die Kunden nur noch die Hälfte von dem, was sie früher gekauft hätten, sagt Veronica Cassio, die einen kleinen Lebensmittelladen betreibt.

Der Preis der Inflationsbekämpfung

Silvina Villoldo verdient als Grundschullehrerin 700 Euro im Monat. Sie schaut auf die 200-Gramm-Gemüsepackung aus dem Eisfach. Vier Euro kostet sie - für Villoldo ist das zuviel: "Das ist heute Luxus für uns, vielleicht für einmal im Monat."

"Die Preise sind auf europäischem Niveau, aber das Gehalt auf südamerikanischem Niveau", sagt Juan Negri, Politikwissenschaftler der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires.

Eine Bilanz sei nicht einfach. Das zentrale Versprechen, das Milei an die Macht brachte, sei erfüllt. "Die Regierung hat Ruhe in Bezug auf Wirtschaft und Wechselkurse herbeigeführt. Das war etwas, was die Gesellschaft brauchte, es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Doch sie kam zu einem Preis."

Ein uneingelöstes Versprechen

Im Wahlkampf hatte der rechtslibertäre Milei, gerne auch mit Kettensäge in der Hand, versprochen: "La Casta", die Eliten, würden für die Sanierung der Wirtschaft zahlen. "Die Anpassungen werden nicht von den guten Menschen bezahlt, die Verbrecher werden zahlen, die Kaste. Die einfachen Leute werden nicht angerührt."

Es ist eines mehrerer Versprechen, die Milei nicht gehalten hat. So führte er weder den Dollar ein noch schaffte er die Steuern ab. Dafür schwörte er die Bevölkerung bei der Amtseinführung auf harte Zeiten ein: "No hay Plata" - "es gibt kein Geld".

Die Lebensqualität der meisten Argentinier habe sich im ersten Jahr noch nicht verbessert, so der politische Analyst Negri. Zudem stellt er fest, dass Milei die Gesellschaft polarisiere.

Wie wir in den Vereinigten Staaten oder in Brasilien gesehen haben, zahlt sich Polarisierung politisch aus, denn sie sorgt dafür, dass man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Am Ende diskutieren alle über das, was Milei sagt. So entsteht eine Art Aufmerksamkeitsfokus, der sich für die Regierung auszahlt.

Im Kulturkampf

Milei hat offen den Kulturkampf ausgerufen. Im Fokus stehen die politische Linke, Minderheiten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Frauenrechtlerinnen, Umweltschützer und Journalisten, die er als "Verbrecher mit Mikrofon" bezeichnet.

Paula Moreno, Präsidentin des Journalistennetzwerkes FOPEA, stellt fest, Milei habe "eine sehr aggressive Haltung gegenüber Journalisten. Ich sehe eine bedrohliche Haltung gegenüber der Ausübung der Meinungs- und Pressefreiheit in Argentinien. Ich denke, hier werden gefährliche Modelle aus anderen Ländern kopiert."

Der Firmenchef ist zufrieden

In Lanús sieht Firmenchef Mariano Lopez all die Entlassungen, die abrupten Veränderungen und harten Worte durchaus kritisch, der Weg aber sei im Grundsatz richtig.

Endlich werde wieder der Fleißige belohnt. Die Selbstbedienungsmentalität von Politikern, Bürokraten, von sozialen Institutionen und so manchem Mitbürger sei Geschichte.

Meine Mutter hat ihr Leben lang gearbeitet, warum soll ich mit meinen Steuern für irgendeine Frau zahlen, die sich nur um ihre Kinder gekümmert hat, statt zu arbeiten? Wenn ihr jetzt die Rente fehlt, ist das nicht mein Problem.

Er vertraue weiter auf den Präsidenten, so wie die meisten von Mileis Wählern.

In Corcovado lernt Javier Villoldo im Online-Unterricht Englisch, als spontan ein Auftrag als Touristenführer reinkommt. Es sei ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Auch wenn es ein Verdienst von nur 30 Euro sei, sei das doch besser als nichts.