Überschwemmungen in Brasilien Katastrophe - auch für die Kultur
Südbrasilien erlebt derzeit die wohl schlimmste Hochwasserkatastrophe seit Jahrzehnten. 1,4 Millionen Menschen sind betroffen. Auch ein Stück deutsche Einwanderungsgeschichte versank in den Fluten.
Es war nichts mehr zu machen: Stunde um Stunde stieg das Wasser höher, bedeckte erst die Straße, dann den Parkplatz. Die schlammbraune Brühe floss unter den Glastüren hindurch in die Lobby, von dort in den Ausstellungssaal und dann die Treppe hoch. Holzstufe um Holzstufe bedeckte es Jahrhunderte deutscher Einwanderungsgeschichte unter sich.
Geschichtsmuseum unter Wasser
"Uralte Musikinstrumente, historische Trachten, landwirtschaftliches Gerät oder die Druckmaschinen der ersten Zeitung hier. Lauter Gegenstände, die von der deutschen Kolonialisierung der Region erzählen", sagt Rodrigo Luis dos Santos. Der Historiker leitet das Geschichtsmuseum von São Leopoldo, einer 200.000-Einwohner-Stadt im Großraum von Porto Alegre.
Sie trägt offiziell den Titel "Wiege der deutschen Einwanderung", denn hier kamen, am 25. Juli vor genau 200 Jahren die ersten Siedler an, darunter Rodrigos Urahnen: die Kochs. Wie Tausende flohen sie aus dem verarmten Hunsrück nach Südbrasilien, um dort ein neues Leben aufzubauen.
Hoch steht das Wasser im Museum - viele Exponate wurden dadurch beschädigt oder zerstört.
Extreme Niederschläge
Auch dieses Erbe liegt nun unter schlammbraunen Fluten, die ein Drittel der gesamten Stadt unter sich begraben haben. Kaum ein Einwohner, der nicht betroffen ist, 40.000 Häuser wurden komplett zerstört. "Die Situation ist dramatisch, noch nie hat es hier so viel geregnet", sagt Bürgermeister Ary Vanazzi im Videogespräch aus der Notunterkunft - 600 mm Niederschlag in 48 Stunden habe es gegeben.
Auch von seinem Haus ragt nur noch das Dachgeschoss aus dem Wasser. Dabei gebe es in der Stadt, die bereits mehrere Hochwasser erlebte, seit Mitte der 1960er-Jahre ein gutes Schutzsystem: "Gebaut mit deutscher Technik, finanziert von der deutschen Regierung", so der Bürgermeister. Schließlich unterhält die Stadt am Fluss Rio Sinos enge Verbindungen nach Deutschland.
Eigentlich steckte die Regierung gerade inmitten in den Vorbereitungen der 200-Jahr-Feier zur deutschen Einwanderungsgeschichte, doch dann kam das Wasser: "Dagegen kam das System nicht mehr an."
Zufahrtsstraßen sind unpassierbar
Vanazzi ist bereits in seiner vierten Amtsperiode, aber so etwas hat er noch nie erlebt. Er muss sich jetzt um muss sich um gebrochene Deiche kümmern, zerstörte Brücken, verzweifelte Nachbarn. Die Zufahrtsstraßen sind unpassierbar.
São Leopoldo läuft auf Notstrom, das Benzin wird knapp. Die Menschen sind auf Trinkwasser- und Lebensmittellieferungen angewiesen. "Die Solidarität ist groß, auch die Regierung hilft", sagt der Bürgermeister, "doch was kommt danach? Was macht das mit unserer Stadt, wie wir sie bisher kannten, was mit den Menschen?"
Mehr als 100 Tote
Es ist das schlimmste Hochwasser Südbrasiliens. 1,4 Millionen Menschen in mehr als 425 Ortschaften sind betroffen, mindestens 107 Menschen kamen laut Zivilschutz bislang ums Leben. Doch die Zahl steigt ständig weiter, denn es werden noch viele vermisst.
Selbst das historische Zentrum der Millionenmetropole Porto Alegre steht unter Wasser, Straßen wurden zu Flüssen, das Fußballstadion zu einem großen See. Und zu vielen Gemeinden im Umland ist die Kommunikation abgebrochen. Und für das Wochenende gab der Zivilschutz neue Unwetterwarnungen heraus: Zu neuen Regenfällen komme die Gefahr von starken Winden und Hagelschlag hinzu.
Auch die Großstadt Porto Alegre steht zum großen Teil unter Wasser.
Hilfe aus der Luft und über Wasser
1500 Kilometer weiter nördlich, in Rio de Janeiro, laden Marinesoldaten derweil Nahrungsmittel, Medikamente, Wasser und Geländewagen in den Bauch der "Atlantico", des längsten Militärschiffs Lateinamerikas. Wenige Stunden später läuft es in Richtung Süden aus. Es sei die erste von mehreren Fahrten, sagt Konteradmiral Nelson Leite: "Die Dimension dieser Operation steht in direktem Verhältnis zur Dimension dieser beispiellosen Tragödie, die sich in Rio Grande do Sul abspielt."
Von "Szenen wie im Krieg" sprach der Gouverneur des Bundesstaats, Eduardo Leite. Es brauche einen regelrechten Marshallplan zum Wiederaufbau.
Von einer Klimakatastrophe spricht Präsident Luiz Inácio Lula da Silva: Er forderte er die Behörden auf, in Zukunft präventiver zu arbeiten, um die Auswirkungen extremer Wetterereignisse zu verringern. "Wir müssen aufhören, dem Unglück nachzujagen. Wir müssen im Voraus sehen, welche Unglücke passieren könnten, damit wir arbeiten können." Zweimal hat der Präsident die Region bereits besucht, Hilfen in Aussicht gestellt - die Bilder seiner Überflüge sind apokalyptisch.
Große Teile von São Leopoldo sind vollkommen überschwemmt, die Zerstörungen immens.
Viele Siedlungen in Risikogebieten
Ökologe Marcelo Dutra da Silva von der Universität des Bundesstaats Rio Grande do Sul, der schon 2022 vor zunehmenden Niederschlägen warnte, sagt: "Dass dieses Risiko bestand, war abzusehen." Die überwiegende Mehrheit der Gemeinden verfüge über keine Schutzpläne für Klimakatastrophen.
Im Gegenteil: Viele Siedlungsgebiete liegen in Senken und Tälern, in der Nähe von Gewässern, das müsse sich ändern. "Eventuell müssen wir ganze Ortschaften umsiedeln", sagt Dutra da Silva, "Wir müssen begreifen, dass uns die klimatischen Veränderungen bedrohen und uns anpassen."
Viele Wetterextreme
Brasilien hat in den vergangenen Monaten immer wieder unter Extremwetter wie Hitzewellen und Starkregen gelitten. Experten zufolge führt die Erderwärmung dazu, dass solche Ereignisse häufiger und intensiver auftreten. Derzeit werden die Wetterextreme jedoch auch durch das Klimaphänomen El Niño verstärkt.
Wir werden neu anfangen müssen, sagt der deutschstämmig Museums-Historiker Rodrigo Luis dos Santos, wie vor 200 Jahren die deutschen Siedler, die hierher kamen.