Kanada und die Indigenen "Sie hielten uns für Wilde"
In einem ehemaligen Umerziehungslager in Kanada wurden Kinderleichen von Indigenen gefunden. Im ARD-Interview berichtet eine ehemalige Bewohnerin von Folter, ihrer Forderung an den Papst und dem Schmerz der Hinterbliebenen.
ARD: Sie waren als Schülerin an der St. Anne's Residential School im kanadischen Fort Albany. Was haben Sie dort erlebt?
Evelyn Korkmaz: Wir wurden als indigene Kinder aus unseren Familien gerissen und in die Internatsschule gesteckt - zur Umerziehung, um den "Indianer" aus uns rauszuholen, wie sie es nannten. Sie hielten uns für Wilde und wollten uns sozusagen unter dem Daumen halten. Ab 1969 war ich vier Jahre lang dort, ab meinem zehnten Lebensjahr. Und das waren weiß Gott keine freundlichen Menschen: Sie haben uns misshandelt, sexuell missbraucht, sich an uns psychisch wie physisch vergriffen.
Und jetzt kommt es raus. Wir Überlebenden wussten das schon immer. Wir wussten, dass manche unserer Mitschüler einfach verschwanden. Jetzt wissen wir, dass sie auf dem Schulgelände vergraben wurden. Und ich bin mir sicher, dass noch jede dieser 139 Internate ein solches Massengrab hat. Ich habe die Regierung aufgefordert, Mittel bereitzustellen, damit wir unsere Klassenkameraden oder Familienangehörigen finden und anständig beerdigen können. Damals hat man die Familien nicht einmal informiert. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Ihr Kind geht zur Schule - und dann kommt es nicht mehr nach Hause zurück! Einfach so, ohne jede Erklärung - da kann keine Mutter mehr ein Auge zu tun. Das ist höchst traumatisierend, ganz egal, ob sie indigen sind oder nicht. Wir verdienen eine Erklärung von unserer Regierung!
Evelyn Korkmaz kam 1969 in das Umerziehungsinternats St. Anne's Indian Residential School in Fort Albany (Kanada, Provinz Ontario). Dort blieb sie bis 1973 und wurde schwer misshandelt. Das Internat wurde 1976 geschlossen. Seither kämpft Korkmaz für eine Aufklärung und Aufarbeitung der Gewalt, die Indigenen an den insgesamt 139 Umerziehungsinternaten angetan wurde.
"Der Papst muss Verantwortung übernehmen"
ARD: Hat man Ihnen geglaubt, wenn Sie als Schülerin erzählt haben, wie es in Ihrer Schule zugeht?
Korkmaz: Nein, das sei alles Lüge, hieß es. Niemand glaubte uns. Deshalb ist es so enttäuschend, dass wir kein Wort von Papst Franziskus gehört haben. Eine Entschuldigung? Ach Gott, nein! Da werden in einem Massengrab tote Kinder gefunden, das jüngste gerade mal drei Jahre alt - das bricht mir das Herz. Ich bin selbst Mutter und Großmutter. Und trotzdem kann ich mir kaum vorstellen, was diese Angehörigen empfinden müssen. Ich kann da nicht mal hingehen, das halte ich nicht aus.
Der Papst muss die Verantwortung für den Völkermord übernehmen, den sie an den indigenen Menschen in Kanada begangen haben. Diese Christen, ganz egal ob katholisch, ob anglikanisch oder von welcher Kirche auch immer - sie müssen geradestehen für ihre Taten, damit Wiedergutmachung möglich wird.
ARD: Die Kirche ist für Sie schuld oder auch der Staat, der es zugelassen, wenn nicht gar befördert hat?
Korkmaz: Beide sind schuldig. Unsere Regierung hat der Kirche Geld gegeben, damit sie die Internate unterhalten konnten. Das waren staatliche Schulen, eingerichtet von der kanadischen Regierung, und die Missionare waren die Lehrkräfte. Besonders traurig ist, dass Schulen wie die meine sich zehn Jahre lang geweigert haben, Akteneinsicht zu geben. 3,2 Millionen kanadische Dollar hat der Prozess darum verschlungen.
"Mit Strom gefoltert"
ARD: Wovor haben die Schulen Angst?
Korkmaz: Sie fürchten, dass wir herausfinden, dass es auch einen elektrischen Stuhl in der St. Anne's Schule gab. Es will keiner wahrhaben, aber Kinder wurden dort mit Strom gefoltert. St. Anne's war eine der schrecklichsten Schulen Kanadas.
ARD: Glauben Sie Premier Justin Trudeau, wenn er sagt, er sei entsetzt und zutiefst betroffen und dass er alles tun wolle, um Abhilfe zu schaffen? Oder sind das nur leere Worte?
Korkmaz: Jeder muss einfach entsetzt sein angesichts der Lage. Aber Worte sind Worte, und was wir jetzt brauchen sind Taten. Seine Worte bleiben hohl, solange sich nichts ändert.
"Ich wollte nicht aufgeben"
ARD: Wie haben Sie diese Hölle durchstanden?
Korkmaz: Das zu durchstehen ist sehr schwer. Es bleibt dir keine andere Wahl, wenn du überleben willst. Suizid? Ich wollte nicht aufgeben. Und ich bin froh, dass ich heute kämpfen kann für mein Volk und für jene, die nicht reden können vor Schmerz. So ein Trauma vergeht nicht über Nacht. Darunter leiden sie ein ganzes Leben lang.
ARD: Welche Rolle spielt das bis heute in indigenen Familien?
Korkmaz: Man hat uns in diese Schule gesteckt, damit wir unsere Sprache nicht mehr sprechen konnten, unserer Tradition beraubt und von unserer Spiritualität abgeschnitten wurden. Wir sollten zu Christen gemacht werden und dann haben uns diese Christen so misshandelt. Ich kann nur sagen: Schande über sie! Und Kanada sollte den Vatikan auffordern, jene Akten freizugeben, die damals nach Rom geschickt wurden. Da finden sich wichtige Informationen zu möglichen Massengräbern und dem elektrischen Stuhl. Wir wissen, es gab ihn und mit den Dokumenten ließe sich das belegen, denn unsere Missionare haben penibel Buch geführt.
ARD: Glauben Sie, das ist der Kern von Kirche oder war es nur die Allmacht, die Ihre Missionare in der Schule hatten?
Korkmaz: Klar geht es um Macht. Die sind mächtig, aber wir als Bürger müssen das beenden und die Schuldigen für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen. Schluss damit! Ich hoffe, dass die Welt jetzt wach wird und wir alle begreifen, dass es um mehr geht als um Kanada und seine indigenen Einwohner.
Das Gespräch führte Christiane Meier, ARD-Studio New York