Petraeus zu afghanischer Armee "Sie hatten plötzlich keine Rückendeckung mehr"
US-Präsident Biden und die Bundesregierung werfen der afghanischen Armee fehlenden Kampfwillen vor. Dem widerspricht im Interview mit STRG_F der ehemalige General und Ex-CIA-Chef Petraeus. Er verteidigt die afghanischen Soldaten.
STRG_F: General Petraeus, musste der US-Krieg in Afghanistan so enden?
David Petraeus: Einige von uns hatten Alternativen vorgeschlagen, von denen ich glauben möchte, dass sie die jetzige Situation verhindert hätten. Wir sollten aber vor allem anerkennen, dass wir jetzt eine moralische Verpflichtung haben gegenüber denjenigen, die ihr Leben und das ihrer Familien aufs Spiel gesetzt haben, indem sie uns gedient haben. Es wird jetzt wichtig, zu sehen, wie wir dieser moralischen Pflicht in den kommenden Tagen und Wochen nachkommen.
STRG_F: Welche Alternativen haben Sie vorgeschlagen?
Petraeus: Weiterhin moderate Streitkräfte, die vor allem viele Drohnen und Luftwaffe vorhalten. Man muss dranbleiben. Schauen Sie, wie lange wir in Korea geblieben sind. Es ist kein Kriegsgebiet mehr, aber wir haben noch über 30.000 Streitkräfte dort. Ich meine, wir haben noch über 30.000 Streitkräfte in Westeuropa. Das sind natürlich andere Umstände. Aber Afghanistan war, als wir die Taliban gestürzt haben, eine mittelalterliche Theokratie mit einem ultrafundamentalistischen islamistischen Regime. Da konnte man natürlich nicht erwarten, dass wir in 20 Jahren einen Staat wie die Schweiz draus machen. Ich habe schon vor zehn Jahren gesagt, das wird Jahrzehnte brauchen, nicht Jahre.
Hohe Opferzahl in der afghanischen Armee
STRG_F: Joe Biden sagt: "Amerikanische Truppen sollten nicht in einem Krieg kämpfen und sterben, den die afghanischen Streitkräfte selbst nicht zu kämpfen gewillt sind." Ist die afghanische Armee schuld?
Petraeus: Die Fakten sind, dass 27-mal so viele afghanische Sicherheitskräfte im Kampf für ihr Land gestorben sind wie US-Amerikaner. Ich bedauere diese Aussage [von Joe Biden], denn aus meiner Zeit als Kommandeur weiß ich, wie hart die Afghanen Seite an Seite mit unseren Frauen und Männern in Uniform gekämpft haben. Die Afghanen haben in riesiger Anzahl gekämpft, bis sie jetzt plötzlich gemerkt haben, dass ihnen keiner mehr Rückendeckung gegeben hat. Dass unsere Luftwaffe nicht mehr da war.
Ich denke, das war vor allem der ausschlaggebende Punkt für ihre Kapitulation und letztlich für den psychologischen Zusammenbruch der afghanischen Sicherheitskräfte. Die Situation, in der sie sich aufgrund unserer politischen Entscheidung [des Abzuges] befanden, war eine ausweglose. Wie kann man von Streitkräften erwarten, dass sie kämpfen, wenn sie wissen, dass keiner mehr zur Unterstützung kommt?
STRG_F: Biden hat den Afghanistan-Einsatz einen "Erfolg" genannt, weil Al Kaida zurückgedrängt und Osama bin Laden getötet wurde. Stimmen Sie zu?
Petraeus: Es stimmt schon, wir sind nach Afghanistan gegangen, um Al Kaida den Rückzugsraum zu nehmen, den sie unter den Taliban hatten. Jetzt wird es darum gehen, sicherzustellen, dass Al Kaida nicht wieder so einen Rückzugsort aufbauen kann. Das wird viel, viel schwieriger ohne Stützpunkte auf afghanischem Boden.
STRG_F: Halten Sie den Abzug für einen Erfolg?
Petraeus: Die ehemalige afghanische Regierung, so fehlerhaft sie auch war, war mit uns verbündet. Ich weiß nicht, wie die Machtübernahme der Taliban als positive Entwicklung für die nationale Sicherheit der USA gedeutet werden kann.
Argumentation "widerstrebt jeder Logik"
STRG_F: Biden hat in seiner Rede auch gesagt, es habe bei dem US-Einsatz nie um den Aufbau eines Staates gehen sollen, sondern rein um Terrorismusbekämpfung. Sie waren der Kommandeur vor Ort, ging es nicht um den Aufbau eines Staates?
Petraeus: Wir waren dort, weil dort die Anschläge vom 11. September geplant wurden und wir wollten die Rückzugsorte von Al Kaida zerstören. Aber wenn man dann irgendwann die Streitkräfte reduzieren will, muss man natürlich afghanische Sicherheitskräfte aufbauen, und wenn man Gebiete übergeben will, braucht man natürlich afghanische Institutionen und eine Regierung. Es widerstrebt also jeder Logik, zu sagen, dass man nicht beim Aufbau eines Staates helfen sollte.
STRG_F: Der US-Einsatz in Afghanistan war stark auf Krieg in der Luft und Drohnenangriffe ausgerichtet. Es wurden auch Unbeteiligte und Zivilisten getötet. War es naiv, zu glauben, man könne ein Land bombardieren und damit Frieden erzeugen?
Petraeus: Nein, überhaupt nicht. Denn damit konnten wir viel präziser vorgehen. Das heißt natürlich nicht, dass keine Fehler gemacht wurden, manche - auch unter meiner Führung - waren zutiefst bedauerlich.
STRG_F: Könnten zivile Opfer von US-Drohnenanschlägen zur Popularität der Taliban beigetragen haben?
Petraeus: Schauen Sie, ich habe immer gesagt, man kann die Herzen und Köpfe der Menschen nicht gewinnen, wenn man Menschen weh tut. Man sollte nie eine Operation ausführen, die mehr "bad guys" hervorbringt. Aber lassen Sie uns festhalten, dass zivile Opfer in den letzten Jahren vor allem den Taliban zuzurechnen sind. Das ist unbestritten. Sie führen barbarischen Aktivitäten aus, begehen mordenden Feldzüge, schüchtern die Leute ein.
Das Interview führte Jonas Schreijäg, NDR, für STRG_F, ein Format von funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF.