Nach Angriff Russlands Feuer in Europas größtem AKW
Russland hat nach ukrainischen Angaben das größte Atomkraftwerk des Landes angegriffen. In Folge der Gefechte brach auf dem Gelände ein Brand aus. Radioaktive Strahlung soll aber nach ersten Informationen nicht ausgetreten sein.
Nach fortgesetzten Angriffen auf die Großstädte Charkiw, Mariupol und Kiew hat die russische Armee der Nacht die Stromversorgung des Landes attackiert. Örtliche Behörden meldeten am frühen Morgen Gefechte mit russischen Soldaten nahe Europas größten Atomkraftwerk Saporischschja - von dort bezieht die Ukraine rund ein Viertel ihrer Energie.
Lokale Behördenvertreter berichteten von Bombenangriffen auf die Atomanlage, das AKW werde mit schweren Geschützen beschossen. Ein Block des Kraftwerks sei getroffen worden, in der Anlage gebe es einen Brand, sagte der Sprecher des AKW, Andriy Tuz in einem auf Telegram veröffentlichten Video. Zwar werde der getroffene Reaktor gerade renoviert und sei nicht in Betrieb, aber es befände sich Kernbrennstoff darin. Feuerwehrleute könnten sich dem Feuer nicht nähern, weil sie beschossen würden. "Wir fordern, dass sie (die Truppen) den Beschuss mit schweren Waffen einstellen", sagte Tuz. "Es besteht eine reale Gefahr für das größte Atomkraftwerk in Europa."
Wohl kein Austritt von Strahlung
Radioaktive Strahlung entweicht aber offenbar bislang nicht aus der Anlage. Die Atomaufsicht der Ukraine habe mitgeteilt, dass "keine Änderung der Strahlungswerte" am Standort des Kernkraftwerks gemeldet worden sei, berichtete die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) am frühen Morgen auf Twitter. Erst am Donnerstag hatte die IAEA ihre große Besorgnis darüber geäußert, dass die Kämpfe die 15 ukrainischen Atomreaktoren versehentlich beschädigen könnten.
Nach Angaben von US-Energieministerin Jenniver Granholm werden die Reaktoren des Kraftwerks nun sicher heruntergefahren. "Es gibt keine erhöhten Strahlenwerte in der Nähe der Anlage", schrieb Granholm auf Twitter. Die Reaktoren seien durch eine robuste Schutzhülle gesichert.
Forderung nach NATO-Unterstützung
Der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko forderte die NATO zum Eingreifen auf. Angesichts des Angriffs auf das AKW fordere man "nicht nur eine professionelle Einschätzung der Geschehnisse, sondern ein echtes Eingreifen mit den härtesten Maßnahmen, auch durch die NATO und die Länder, die Atomwaffen besitzen", schrieb Haluschtschenko auf Facebook.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte den sofortigen Stopp der Angriffe. "Wenn es explodiert, wird das zehnmal größer sein als Tschernobyl! Russen müssen sofort das Feuer einstellen", schrieb er auf Twitter.
Biden warnt, London will Sicherheitsratssitzung
Auch US-Präsident Joe Biden forderte Russland auf, seine militärischen Aktivitäten in dem Gebiet um das Kernkraftwerk einzustellen. In einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj habe Biden sich "über den aktuellen Stand des Brandes" in der Atomanlage erkundigt, teilte das Weiße Haus mit. Die russische Armee müsse Feuerwehrleuten und Rettungskräften den Zugang zu dem Gelände ermöglichen, so Biden.
Großbritannien forderte in einer ersten Reaktion eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats. Das "rücksichtslose" Verhalten von Russlands Präsident Wladimir Putin könne "direkt die Sicherheit von ganz Europa bedrohen", erklärte das Büro von Premierminister Boris Johnson in der Nacht.
Angriffe auf ukrainische Großstädte
Nur Stunden zuvor hatte die russische Armee ihre Offensive gegen ukrainische Großstädte noch einmal ausgeweitet. Bei russischen Angriffen auf die ostukrainische Millionenstadt Charkiw und Umgebung wurden nach Angaben örtlicher Behörden am Mittwoch und Donnerstag mindestens 34 Zivilisten getötet. 285 Menschen wurden zudem verletzt, darunter 10 Kinder, wie der regionale Zivilschutz mitteilte. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden. Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes liegt nahe der Grenze zu Russland. Sie ist seit Kriegsbeginn Ziel russischer Angriffe.
In Kiew gab es in der Nacht zu Donnerstag mehrere schwere Explosionen. Luftalarm wurde ausgelöst, wie die Agentur Unian berichtete. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko schrieb bei Telegram: "Der Feind versucht, in die Hauptstadt durchzubrechen." Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs setzten sich russische Truppen nördlich und nordwestlich von Kiew in 20 bis 30 Kilometern Entfernung von der Stadtgrenze fest und errichteten Feldlager. Der russische Militärkonvoi kommt internationalen Beobachtern zufolge allerdings deutlich langsamer voran als von Moskau geplant.
Die südukrainische Hafenstadt Mariupol mit rund 440.000 Einwohnern ist nach Angaben örtlicher Behörden nach Luftangriffen ohne Wasser, Heizung und Strom. Die strategisch wichtige Stadt ist offenbar inzwischen eingeschlossen.
Derweil ist die genaue Situation in der südlichen Gebietshauptstadt Cherson unklar. Die ukrainische Armee hat die Stadt offenbar aufgegeben. "Wir haben in der Stadt keine Streitkräfte der Ukraine, nur friedliche Bewohner, die hier leben wollen!", schrieb Bürgermeister Ihor Kolychajew in der Nacht. Russische Besatzer seien in allen Stadtteilen der südlichen Hafenstadt Cherson, erklärten die dortigen Behörden. Cherson wäre die erste ukrainische Großstadt unter neuer russischer Kontrolle.
33 Tote bei russischem Luftangriff auf Tschernihiw
Bei einem russischen Angriff auf Wohngebiete in der Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine sind nach ukrainischen Angaben 33 Menschen getötet worden. 18 weitere Menschen seien verletzt worden, teilte der Rettungsdienst der Stadt mit. Zuvor war von 22 Todesopfern die Rede gewesen. Den Angaben zufolge wurden bei dem Angriff zwei Schulen und ein Wohnhochhaus getroffen.
Die stellvertretende Bürgermeisterin von Tschernihiw, Regina Gusak, sagte der Nachrichtenagentur AFP, das 120 Kilometer von Kiew entfernte Tschernihiw sei Ziel eines russischen "Bombenangriffs" geworden. Gouverneur Wjatscheslaw Tschaus hatte zuvor von einem russischen Luftangriff gesprochen, bei dem zwei Schulen im Stadtteil Staraja Podusiwka und Wohnhäuser getroffen worden seien. Tschernihiw und die gleichnamige Region liegen nordöstlich der Hauptstadt Kiew
OSZE will mögliche Kriegsverbrechen untersuchen
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kündigte am Donnerstag an, eine Gruppe internationaler Experten solle in ihrem Auftrag in der Ukraine "Fakten und Umstände zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermitteln". Nach Angaben der Vereinten Nationen sind in der ersten Woche des Konflikts 249 Zivilisten getötet und 553 verletzt worden. Die Ukraine hatte am Mittwoch von mehr als 2000 getöteten Zivilisten gesprochen.