Armeniens amtierender Premier Paschinjan lässt sich von einem Militär die Lage in der südlichen Grenzregion zu Aserbaidschan erklären.
Hintergrund

Armenien und Aserbaidschan Gefährlicher Grenzstreit im Kaukasus

Stand: 04.06.2021 15:16 Uhr

Mehr als ein halbes Jahr nach Kriegsende flammt der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut auf. Diesmal geht es um den Grenzverlauf zwischen beiden Ländern. Russland hält sich zurück.

Fast sieben Monate sind vergangen, seit Armenien und Aserbaidschan nach 44 Tagen Krieg einen Waffenstillstand schlossen - vermittelt von Russland, das mehr als 2000 Soldaten im Konfliktgebiet Bergkarabach stationiert hat.

Doch nun gibt es neue gefährliche Scharmützel zwischen armenischen und aserbaidschanischen Soldaten - vor allem im südlichen Bereich der Grenze zwischen beiden Staaten. Die Regierung in Jerewan alarmierte die internationale Öffentlichkeit, am 12. Mai seien aserbaidschanische Soldaten 3,5 Kilometer weit auf das eigene Territorium vorgedrungen. Am 25. Mai sei ein Soldat tief auf armenischem Territorium erschossen worden. Ende Mai dann sollen aserbaidschanische Sicherheitskräfte sechs und einige Tage später noch einmal 40 armenische Soldaten gefangen genommen haben.

Nach Informationen des Sicherheitsexperten Richard Giragosian in Jerewan drangen Gruppen aserbaidschanischer Soldaten koordiniert in die südarmenischen Regionen Sjunik und Gegharkunik vor. Einige setzten sich fest, andere zogen sich wieder zurück. Das Verteidigungsministerium in Baku erklärte hingegen, es würden lediglich Grenzbefestigungsarbeiten durchgeführt. Die armenischen Militärs seien auf aserbaidschanischem Territorium gefangen genommen worden. Die sechs Soldaten hätten Minen verlegt.

Umstrittener Grenzverlauf

In den sozialen Medien veröffentlichte Videos zeigen Gruppen armenischer und aserbaidschanischer Soldaten, die einander zu vertreiben versuchen und dabei beleidigend und handgreiflich werden. Das Gelände ist bergig und spärlich bewohnt. Es gibt kaum Grenzmarkierungen.

Seit dem Krieg errichten beide Seiten auch in der Region Schützengräben. Bis dahin hatte Armenien die Gebiete beiderseits der Grenze kontrolliert. Diese war einst nominell zwischen den Sowjetrepubliken festgelegt worden. Wie in anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion gab es mehrere Vereinbarungen. Grenzverläufe durchkreuzen Straßen, Wohngebiete, Zugänge zu Wasser und Feldern. Alte Karten sind teils widersprüchlich und unpräzise.

In sozialen Medien verweisen Nutzer auf Google Maps, um die Angaben ihrer Seite zu bekräftigen. Doch ist der Dienst dort ungenau, ebenso wie Yandex oder Open Streets Maps, die in der Region abweichende Verläufe anzeigen. Hinzu kommt, dass Google laut Recherchen von US-Medien politischen Konflikten ausweicht, indem es Grenzen abhängig von der IP-Adresse des Betrachters anzeige - und damit Streit befördert.

Korridor für Aserbaidschan durch Armenien

Offenbar aber lagen den Regierungen Frankreichs und der USA Mitte Mai ausreichend klare Erkenntnisse vor, um Aserbaidschan zum Rückzug seiner Soldaten aufzufordern. Deutlich und frühzeitig stellte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf die Seite Armeniens.

Aserbaidschans Präsident Alijew eröffnet einen Park mit Trophäen aus dem Krieg gegen Armenien.

Aserbaidschans Präsident Alijew drohte Armenien im April. Hier im "Trophäenpark" in Baku, wo Armenier verunglimpfend als Puppen ausgestellt sind.

Vor Beginn der Auseinandersetzungen hatte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew Armenien gedroht: Auch gegen dessen Willen werde er die Einrichtung eines Transitkorridors über südarmenisches Territorium zur Exklave Nachitschewan durchsetzen. Durch den Wiederaufbau dieser alten Verkehrswege erhält Aserbaidschan eine direkte Verbindung zur Türkei, die an Nachitschewan grenzt und die als enge Verbündete im Krieg militärische Unterstützung leistete.

Diesem Transitkorridor als Teil eines größeren Infrastrukturplans musste Armenien im Angesicht der Kriegsniederlage zustimmen. Es ist ein Punkt der Waffenstillstandsvereinbarung, die Russland vermittelt hatte.

Russland hält sich zurück

Russland als Armeniens Schutzmacht hält zwar die Lage im Konfliktgebiet Bergkarabach unter Kontrolle und schützt so die dort lebenden Armenier. Auch verlegten die russischen Sicherheitskräfte Soldaten von ihrer 102. Militärbasis im Westen Armeniens in die umstrittene Grenzregion. Aber bislang ließen sie die Scharmützel geschehen. Auch die von Russland geführte Sicherheitsorganisation "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS) aktivierte ihre Beistandsklauseln für Armenien nicht.

Nach den Bemühungen bei der OVKS schlug Armeniens amtierender Premier Nikol Paschinjan den Rückzug der Streitkräfte beider Seiten sowie die Stationierung internationaler Beobachter Russlands, Frankreichs oder der USA vor. Alle drei erklärten sich bereit, bei der schwierigen Aufgabe der Demarkierung der Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan zu vermitteln.

Die drei Staaten führen die seit Anfang der 1990er-Jahre bestehende Minsk-Gruppe der OSZE zur Lösung des Konflikts an. Jedoch sieht Aserbaidschan Frankreich und die USA als pro-armenisch an. Das Ende des Krieges im Herbst hatte Russland dann in Abstimmung mit der Türkei herbeigeführt.

Armeniens Regierung vor dem Zerfall

Wenn Paschinjans Vorschlag international auch positiv aufgenommen wurde, so verschärfte er die Krise in Armenien. Denn Paschinjan äußerte sich ohne Absprache mit dem Außenministerium. Als Konsequenz trat dessen Spitze zurück. Vor der Parlamentswahl am 20. Juni verlieren er und sein Bündnis weiter an Vertrauen, während die Opposition im Wahlkampf mit Kriegsrhetorik arbeitet. Im Land herrschen Frust und Wut über die Kriegsniederlage, Revanchegedanken und Angst vor den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei.

Immerhin nahmen Armenien und Aserbaidschan nun unter russischer Vermittlung wieder direkte Gespräche auf. In der Grenzregion aber kann die Lage jederzeit eskalieren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Phoenix am 22. Dezember 2020 um 11:00 Uhr.