Russische Truppen erreichen Bergkarabach
Analyse

Krieg um Bergkarabach Alte Interessen und neue Waffen

Stand: 14.11.2020 08:45 Uhr

Der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan zeigt vieles: Die Rivalen Russland und Türkei destabilisieren wieder Europas Nachbarschaft - und Drohnen entscheiden Kriege.

Eine Analyse von Silvia Stöber

"Wir haben bewiesen, dass es eine militärische Lösung gibt", erklärte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew am 10. November - nachdem Armeniens Regierung einer Waffenstillstandsvereinbarung zugestimmt hatte. Diese fixiert die Landgewinne Aserbaidschans während eines sechswöchigen Krieges mit Tausenden getöteten Soldaten und weit mehr als 100 zivilen Opfern.

Die armenischen Truppen und Bewohner müssen sich der Vereinbarung gemäß noch aus weiteren Gebieten zurückziehen, die Armenien zu Beginn der 1990er-Jahre zusätzlich zur Region Bergkarabach in Aserbaidschan eingenommen hatte. Diese sollten als Schutzzone dienen.

Nun sollen russische Truppen für die Sicherheit der verbliebenen Einwohner in Bergkarabach sorgen. Sie setzten sich in dem Moment in Bewegung, als die Vertreter Russlands, Aserbaidschans und Armeniens die Vereinbarung unterzeichnet hatten. Während die Soldaten in Bergkarabach Posten beziehen, bleibt die Frage, wie sicher die Menschen in Bergkarabach wirklich sind.

Die Rolle Russlands und der Türkei

Zum Status, zu Schutzgarantien für die Menschen und zur Umsetzung der einzelnen Punkte auch mit Beteiligung internationaler Organisationen müssten nun schnell Verhandlungen stattfinden. Zu beobachten ist aber ein Machtkampf zwischen Russland und der Türkei. Diese hatte als Verbündeter Aserbaidschans - nicht offiziell, aber verdeckt - zu dessen Sieg beigetragen. Nun will die Türkei mit Friedenstruppen eine offizielle militärische Präsenz etablieren.

Doch die russische Führung stellte klar, dass sich die Türkei lediglich in einem Friedensüberwachungszentrum beteiligen könne. Bewaffnete türkische Soldaten solle es in Bergkarabach nicht geben. Während beide Länder noch über den Standorts des Kontrollzentrums verhandeln, schaffen russische Einheiten bereits Tatsachen. Sie postierten sich an der Hauptstraße in Bergkarabach und damit auch am einzigen befahrbaren Zugang zu Schuscha. Die Stadt hatte Aserbaidschan am Wochenende eingenommen und damit den Krieg für sich entschieden. Nun gibt es dort russische neben aserbaidschanische Kontrollposten.

Rivalität auf Kosten der Menschen

Russland und die Türkei verfolgen damit im Südkaukasus eine Machtpolitik wie zuletzt zu Beginn des 20. Jahrhunderts - damals wie heute auf Kosten der Einwohner und mit dem Risiko, die politische Stabilität in der Region dauerhaft zu gefährden. Viele Aserbaidschaner zum Beispiel werfen ihrem Präsidenten vor, dass nun wieder russische Truppen in ihrem Land präsent sind. Ihren Unmut darüber richten sie auch an Armenien.

Die unklare Lage für die verbliebenen Armenier in Bergkarabach und weitere Unsicherheiten verstärken Wut und Bitterkeit in Armenien, die sich in Protesten gegen Premier Nikol Paschinjan entladen. Dies versuchen ultranationalistische und andere oppositionelle Kräfte auszunutzen, was den Weg Armeniens zur Demokratie gefährdet.

Internationale Vermittler ohne Einfluss

Noch Ende Oktober hatte Außenminister Heiko Maaß erklärt, die internationale Gemeinschaft werde eine militärische Lösung im Konflikt um Bergkarabach nicht akzeptieren. Zuständig für die Vermittlung dort ist die OSZE. Doch die Organisation lähmt eine Führungskrise, herbeigeführt unter anderem von Aserbaidschan. Sie hat auch keine Büros mehr in der Region.

Obwohl die Minsker Gruppe der OSZE grundlegende Prinzipien für eine Konfliktlösung ausgearbeitet hatte, spannte sich das Verhältnis zwischen Armenien und Aserbaidschan in den vergangenen Jahren an. Zahl und Schwere militärischer Zwischenfälle nahmen zu. Beide rüsteten auf, sodass sie nach Berechnungen des Bonner Internationalen Zentrums für Konversion (BICC) zu den zehn am stärksten militarisierten Ländern weltweit zählten.

Drohnen entschieden den Krieg

Dabei hätte Druckpotenzial bestanden: Armenien und Aserbaidschan sind an wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Europa und den USA interessiert. Die wichtigsten Waffenlieferanten waren jedoch Russland für beide Staaten und Israel für Aserbaidschan, die damit strategische Interessen verfolgten. Hinzu kam in diesem Jahr verstärkt die Türkei. Das NATO-Mitglied unterstützte Aserbaidschan mit Training bei gemeinsamen Militärmanövern, Militärberatern und der Präsenz von F16-Kampfjets aus US-Produktion nahe des Kriegsgebiets.

Israelische und türkische Drohnen erwiesen sich als entscheidend für den Sieg Aserbaidschans. Diese werden zum Auskundschaften und zum Beschuss des Gegners eingesetzt - und erwiesen sich dabei als überlegen gegenüber den klassischen russischen Waffen, über die die armenischen Streitkräfte verfügen. Soldaten in Schützengräben, Panzer, Geschütze und Flugabwehrsysteme waren ein leichtes Ziel für die unbemannten Flugobjekte. Und sie hatten offenbar eine massive demoralisierende Wirkung.

Waffenembargos ohne Wirkung

Waffenembargos hätten die massive Aufrüstung in den vergangenen Jahrzehnten verhindern sollen. Ein freiwilliges Embargo der Vereinten Nationen lief jedoch 2002 praktisch aus. Ein Embargo der OSZE gilt noch und die Bundesrepublik hält sich daran. Die Türkei und Russland sowie Israel als OSZE-Partnerstaat aber nicht.

Ohnehin berücksichtigen die Bestimmungen die aktuellen technischen Entwicklungen nicht. Drohnen enthalten Hochtechnologiekomponenten, die die Türkei zum Beispiel aus Kanada bezieht. Nichtstaatliche Initiativen machten in den vergangenen Wochen darauf aufmerksam. Die Regierung Kanadas entzog daraufhin einem Hersteller von Bildgebungs- und Zielsystemen die Ausfuhrgenehmigung in die Türkei. In Israel engagieren sich ebenfalls Aktivisten dafür, den Verkauf von Drohnen nach Aserbaidschan zu verbieten.

Zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien gelingt es mittels Satellitenaufnahmen, Datenanalysen und Auswertung von Bildern immer besser, Hintergründe und aktuelle Verläufe im Kriegsgeschehen aufzudecken. Es kann jedoch nur ein kleiner Beitrag gegen die Machtpolitik von Staaten wie Russland und der Türkei sein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 14. November 2020 um 12:55 Uhr.