Nach Bergkarabach-Krieg Armenien am Rande des Kollaps
Die Friedensvereinbarung für Bergkarabach verschafft Armenien nur an einer Front Ruhe. Unmut über Premier Paschinjan, die Versorgung der Flüchtlinge und die Corona-Krise bringen das Land an den Rand seiner Kapazitäten.
Bereits am Wochenende war Unruhe auf den Straßen Jerewans spürbar. Männer verschiedenen Alters standen zusammen und diskutierten die Lage im Kriegsgebiet Bergkarabach. Die Worte Schuschi und Stepanakert flogen hin und her - Stimmen die Aussagen der Regierung? Was berichten die Soldaten von der Front? Wo stehen die Truppen der Aserbaidschaner?
Bis dann am Montagabend Premierminister Nikol Paschinjan de facto die Kapitulation Armeniens erklärte: Der Krieg sei zu Ende. Er habe einer für ihn und das Volk "unaussprechlich schmerzhaften" Friedensvereinbarung mit Aserbaidschan und Russland zugestimmt.
Fotos in der Hauptstadt Jerewan erinnern an die mehr als 1000 gefallenen Soldaten. Bei Beerdingungen infizieren sich viele mit Covid-19
Da brach sich Wut Bahn. Hunderte Menschen stürmten auf die Straßen, einige drangen in den Regierungssitz und das Parlament ein. Paschinjan nannten sie einen "Verräter", der nicht hätte aufgeben dürfen. Erst danach wurde klar, wie ernst die Lage im Kriegsgebiet war: Der Präsident von Bergkarabach, Araik Harutjunjan, erklärte, die Friedensvereinbarung habe die Einnahme der Hauptstadt Stepanakert und weiteren Territoriums durch die Aserbaidschaner verhindert. Die armenischen Streitkräfte seien nach 43 Tagen ununterbrochener Kämpfe nicht mehr in der Lage gewesen, Widerstand zu leisten.
Opposition setzt auf Machtwechsel
Auch wenn sich diese Erkenntnis unter den Armeniern durchsetzt, bleibt massive Enttäuschung über Paschinjan. Denn es entstand der Eindruck, er habe die Friedensvereinbarung im Alleingang ausgehandelt und unterzeichnet - dabei war er 2018 angetreten, um das Land zu demokratisieren. Zum Beispiel erklärte Staatspräsident Armen Sarkissjan, er habe den Inhalt des Abkommens nicht gekannt und wolle es nicht unterzeichnen. Später sagte Verteidigungsminister David Tonoyan jedoch, die Regierung habe vor ihrer Entscheidung die Militärführung konsultiert, sie habe die Einschätzung über die Aussichtslosigkeit der Lage geteilt.
Durch ihre Aussagen stützen der Verteidigungsminister und der Präsident Bergkarabachs den Premierminister, den die Opposition unter Druck setzt, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Bislang fanden die ultranationalistischen Parteien wenig Anklang in der breiten Bevölkerung. Andere Politiker wie der Oligarch Gagik Tsarukian genießen angesichts von Korruptionsvorwürfen kein Vertrauen bei den Menschen. Das trifft auch auf die ehemalige Regierungspartei der Republikaner zu, unter deren Führung Armenien bereits 2016 bei Kämpfen Territorium an Aserbaidschan verlor.
Auch Paschinjans Anhänger wenden sich von ihm ab
Doch auch Anhänger Paschinjans wenden sich von ihm ab. Hatten sie seine Regierungsführung bislang wohlwollend kritisch begleitet, lehnen nun auch viele von ihnen die Friedensvereinbarung ab. Die Aktivistin Olja Asatjan zum Beispiel sagt, Paschinjan hätte den Bedingungen niemals zustimmen dürfen und stattdessen zurücktreten sollen.
Sie kritisiert neben der ungeklärten Statusfrage vor allem den letzten Punkt der Friedensvereinbarung: Darin geht es nicht um Bergkarabach, sondern um Territorium im Süden Armeniens. Dort soll Aserbaidschan einen Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan und damit eine Landverbindung zur Türkei erhalten. Absichern sollen ihn russische Grenztruppen, die seit Jahrzehnten dort an der Grenze zum Iran stationiert sind. Diese bislang unkonkrete Vereinbarung hat das Potenzial für neue Auseinandersetzungen.
Auch der Status der Region Bergkarabach ist noch nicht geklärt, eine Vertreibung der Armenier von dort noch nicht abgewendet - auch wenn russische Friedenssoldaten einen Korridor zu den Armeniern in Bergkarabach und die Frontlinie sichern sollen. Um noch Sicherheitsgarantien aushandeln zu können, bräuchte die Regierung um Paschinjan zumindest ein geeintes Land hinter sich und keine Opposition, die womöglich mit Deckung aus Russland Unruhe stiftet.
Große Solidarität mit Geflüchteten aus Bergkarabach
Bisher schon sind etwa 100.000 Menschen aus Bergkarabach geflohen. Sie fanden Unterkunft in Häusern der Regierung, in Hotels und privat bei Freunden und Verwandten. Dem relativ schnellen Handeln der Regierung und der enormen Solidarität unter den Armeniern ist es zu verdanken, dass sich die sozialen Folgen derzeit noch in Grenzen halten.
Lara Aharonian, Leiterin des Frauenhilfszentrums in Jerewan, organisiert als eine von vielen seit Wochen Hilfe für die Geflüchteten. Mit Spenden auch aus der Diaspora im Ausland versorgen sie die Menschen mit Lebensmitteln, Hygiene-Produkten und Kleidung. Auch Menschen aus Bergkarabach selbst engagieren sich: So backt eine Gruppe Frauen täglich Fladenbrot mit Kräutern aus der Region und verkauft es an einer Fußgängerzone im Zentrum Jerewans. Von morgens bis abends stehen dort Menschen an, auch um zu spenden.
Geflüchtete aus Bergkarabach backen Fladenbrot mit Kräutern aus der Region. Einwohner in Jerewan kaufen es nicht nur aus Solidarität.
Überfüllte Kliniken - und viele ohne Mund-Nasen-Schutz
Aharonian und viele andere sorgen sich jedoch, dass die Versorgung der Flüchtlinge auf Dauer über ihre Kräfte gehen könnte, zumal die Corona-Pandemie fast ungehindert im Land wütet. Das Virus schwächt die Soldaten in Bergkarabach, wie dessen Präsident Harutjunjan zugab. Es verbreitet sich unter den Flüchtlingen und bei den Beerdigungen für die gefallenen Soldaten und verstorbenen Zivilisten. Die Krankenhäuser können derzeit Hunderte Schwerkranke nicht aufnehmen.
Die Regierung appelliert mit Plakaten an die Bevölkerung, Masken zu tragen - sie will jedoch nicht die geschwächte Wirtschaft ein zweites Mal mit Einschränkungen drosseln. Während sich viele nicht mehr auf die Straße trauen, ignorieren vor allem Männer die Gefahr und tragen keine Mund-Nase-Bedeckung.
Die Regierung appelliert mit Plakaten zur Corona-Pandemie an die Bevölkerung, Masken zu tragen. Links eine Solidaritätsaktion von Mädchen für die Menschen in Bergkarabach.
Enttäuschung über Europa
Die Friedensvereinbarung bringt Armenien nur an einer Front etwas Ruhe. Es bleiben enorme Herausforderungen, die das Land allein kaum stemmen kann. Von Russland fühlen sich die meisten Menschen endgültig verraten und auch von Europa sind viele enttäuscht.
Es bleibt die Unterstützung der Diaspora, die auch massives politisches Lobbying treibt. Wirkung zeigt es zum Beispiel in Frankreich, dessen Regierung klar auf der Seite Armeniens steht und die Türkei als Verbündeten Aserbaidschans massiv kritisiert. An der Aushandlung der Friedensvereinbarung hatte aber auch Frankreich keinen Anteil, obwohl es neben Russland und den USA Mitglied der Minsker Verhandlungsgruppe der OSZE ist.