Afghanistan unter den Taliban "Jetzt haben wir gar nichts mehr"
Ein Jahr nach der Machtergreifung der Taliban leben weite Teile der afghanischen Bevölkerung in Armut: Viele haben ihre Arbeit verloren. Wer früher zur Mittelschicht gehörte, ist heute auf Lebensmittelspenden angewiesen.
Farzana versucht, sich mit anderen Frauen und Kindern in ein Taxi zu quetschen, während Männer mit Schubkarren Lebensmittel in den Kofferraum hieven. Farzanas Nerven liegen blank, genau wie bei allen anderen im Stadtviertel Shahr-e Naw, mitten in Kabul. Mit Hunderten anderen Menschen hat sie seit fünf Uhr morgens in der Schlange angestanden. Fünf Stunden später hat sie endlich die Lebensmittel erhalten, die ihr zustehen: "Mein Mann hat seinen Job verloren, deswegen bin ich hier. Jetzt haben wir niemanden mehr daheim, der Geld verdienen kann...", klagt sie.
Ihre Stimme versagt. Farzana versucht die Tränen mit dem Zipfel ihres schwarzen Kopftuchs wegzuwischen, aber sie laufen ständig nach. Ihr Ehemann hatte einen Job beim Geheimdienst in der ehemaligen Regierung. Deswegen ist er ins Nachbarland Iran geflohen, kurz nachdem die Taliban an die Macht kamen - zusammen mit dem 18-jährigen Sohn.
Für Farzana und die jüngeren Kinder wäre eine solche Flucht zu gefährlich. Sie lebt also nun allein mit ihren zwei kleinen Töchtern und zwei Söhnen. Obwohl - leben könne man das fast nicht mehr nennen, sagt Farzana, sie versuche einfach nur von Tag zu Tag über die Runden zu kommen. "Manchmal greifen uns noch Verwandte unter die Arme oder die Nachbarn geben was ab, wenn sie mal einen Job haben."
Lebensmittelspenden im Nobelviertel
Fast 15.000 Menschen erhalten alleine im Viertel Shar-e Naw einmal im Monat kostenlos Lebensmittel: 50 Kilogramm Mehl, ein paar Kilo Bohnen, Öl und Salz. Organisiert vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das hier mit einer lokalen Hilfsorganisation zusammenarbeitet. Mehr als die Hälfte der Afghaninnen und Afghanen weiß derzeit nicht, woher die nächste Mahlzeit kommt - und wann.
In Kabul sind immer mehr Menschen auf die kostenlosen Lebensmittel angewiesen. Dabei ist Shahr-e Naw ein sehr schicker Kiez: Mit Boutiquen, klimatisierten Einkaufszentren und teuren Supermärkten mit Lebensmitteln aus dem Ausland. Es gibt sie noch, diese Läden, nur jetzt sind sie meist gähnend leer.
Auch Farzana ging hier gerne shoppen. Dann kamen die Taliban vergangenes Jahr Mitte August an die Macht - und Farzanas Leben wurde, wie bei fast allen Menschen in Afghanistan, von heute auf morgen auf den Kopf gestellt:
Meine Kinder hatten Kleidung, mein Mann einen Job, das Gehalt war gut, wir hatten immer ausreichend zu essen. Jetzt haben wir gar nichts mehr, kein Geld, keinen Job. Und manchmal haben wir nicht einmal mehr etwas zu Essen zu Hause, dann gehen meine Kinder hungrig ins Bett.
Das Kämpfen gelernt, nicht das Regieren
Die Wirtschaft in Afghanistan liegt komplett am Boden. Die Taliban sind ziemlich unerfahren darin, einen Staat zu lenken. 20 Jahre haben die Mitglieder eher das Kämpfen in den Bergen gelernt denn als Beamte an Schreibtischen zu sitzen. Schon vor ihrer Machtübernahme war die Republik Afghanistan ohne Hilfe aus dem Ausland kaum überlebensfähig.
Das neue Islamische Emirat, wie die Taliban den Staat nun nennen, wurde bislang noch von keinem anderen Land der Welt offiziell anerkannt. Es gibt Sanktionen, einige Minister stehen noch auf internationalen Terrorlisten, ausländische Konten sind eingefroren.
"Wirtschaftsleistung unter Null"
"Die Wirtschaftsleistung in unserem Land liegt unter Null", sagt der ehemalige Taxifahrer Abdul. "Das sehen Sie an mir und an der Situation meiner Kunden. Die meisten haben ihren Job verloren. Wenn also kein Geld im Umlauf ist, geht es der Wirtschaft einfach richtig schlecht."
Abduls Kunden waren vor allem Beamte der ehemaligen Regierung. Viele dieser Posten sind nun von den Taliban besetzt. Und die meisten Menschen verdienen seit der Machtübernahme der Taliban weniger Geld - oder gar nichts mehr.
"Das geht auf die Psyche"
Trotzdem wird fast alles teurer in Afghanistan: Die Spritpreise haben sich verdoppelt, die Ersatzteile für Autos seien nun unerschwinglich, sagt Abdul. Und sein kaputtes Auto muss jetzt erst einmal stehen bleiben.
Deswegen ist Abdul jetzt mit Tausenden anderen bei der Lebensmittelausgabe, damit ihre Familien für einige Zeit etwas zu Essen bekommen. Ein Mitarbeiter der lokalen Hilfsorganisation ruft die Namen der Menschen einzeln auf, die ihre Ration abholen dürfen. Abdul schämt sich: "Wir sind auf Almosen angewiesen. Das macht was mit einem. Das geht auf die Moral und auf die Psyche."
Nicht einmal mehr Hoffnung habe er, sagt Abdul. Farzana, die versucht, alleine mit ihren vier Kindern zu überleben, sagt, sie könne sich derzeit überhaupt keine Zukunft mehr in Afghanistan vorstellen.