Konflikt um Bergkarabach Neue Spannungen am Latschin-Korridor
Seit Tagen wird die Verbindung Bergkarabachs nach Armenien blockiert - von "Umweltaktivisten", wie Aserbaidschan behauptet. Armenien spricht von staatlicher Provokation - und warnt vor einer humanitären Katastrophe.
120.000 Menschen bleiben in diesen Tagen ohne Nahrungsmittel, Medikamente und Benzin. Das erzählt einer der Leiter der nicht anerkannten Republik Bergkarabach, Ruben Wardanjan, in einem emotionalem Interview gegenüber dem russischen Medium "Doschd". Man könne von einer "totalen Blockade" sprechen, meint Wardanjan: Es bliebe den Bewohnern der umkämpften Region nur der Strom. "Aber auch der kann jederzeit weg sein."
Zwar hat Aserbaidschan heute damit begonnen, wieder Gas nach Bergkarabach zu pumpen, der sogenannte Latschin-Korridor allerdings ist weiterhin besetzt. Es ist so etwas wie die Lebensader der umkämpften Region: ein nur wenige Kilometer breiter Streifen, der Armenien mit dem bergigen Bergkarabach verbindet - einer nicht anerkannten Republik, um die sich die beiden Nachbarn Armenien und Aserbaidschan immer wieder blutige Kämpfe liefern. Es ist ein Konflikt, der schon mehr als 100 Jahre alt ist.
Russische Patrouillen im Korridor seit 2020
Zu Beginn der Sowjetzeit wurde das rohstoffreiche Bergkarabach Aserbaidschan zugeschlagen, gehört seitdem also völkerrechtlich zu Aserbaidschan und ist zudem von aserbaidschanischem Staatsgebiet umgeben. In dem Gebiet leben jedoch mehrheitlich christliche Armenier. Nach einem blutigen Krieg in den 1990er-Jahren gewann Armenien die Kontrolle über Bergkarabach und benachbarte Gebiete. Armenien verfügte damit auch über einen eigenständig kontrollierten Zugang.
2020 brachen die Kämpfe allerdings erneut aus. Dieses Mal gewann Aserbaidschan nicht nur die Kontrolle über große Teile der umstrittenen Region zurück, sondern schnitt Bergkarabach auch von Armenien ab. Seitdem sind russische Friedenstruppen im Latschin-Korridor stationiert, der Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach.
Umweltaktivisten oder Aserbaidschan?
Die jetzige Blockade dieses Korridors, die auch die russischen Truppen nicht verhindern konnten, bedeutet erneute Spannungen in einem schier unlösbar scheinenden Konflikt zwischen beiden Nachbarn. Laut aserbaidschanischem Außenministerium handelt es sich bei den Umweltaktivisten, die den Latschin-Korridor seit Tagen blockieren, um Teile der Zivilgesellschaft. Sie protestierten gegen die "Plünderung natürlicher Rohstoffe" durch armenische Akteure, die diese für illegal hielten. Armenien dagegen spricht von gezielter Provokation durch Aserbaidschan selbst. Ein Vorwurf, den Aserbaidschan zurückweist.
In einem Beitrag des aserbaidschanischen Fernsehsenders "CBC TV Azerbaijan" berichtet ein Reporter von vor Ort. Die "Umweltaktivisten" stehen mit dem Rücken zum Reporter. Weder sprechen sie, noch sind ihre Gesichter zu sehen. Dafür erklärt der Fernsehreporter, dass es um den illegalen Betrieb zweier Minen gehe. Auch die Sprecherin der russische Außenministerin Maria Sacharowa hatte dies zuvor als Grund für die erneuten Spannungen genannt: Ursache seien Meinungsverschiedenheiten beider Seiten bei der Erschließung von Erzvorkommen, so Sacharowa. Russland arbeite allerdings daran, die Situation zu deeskalieren.
Moskaus Schwäche und Aserbaidschans Chance
Aserbaidschan betrachtet sich traditionell als Brudervolk der Türkei, Armenien aber steht Russland nahe. Russland galt lange als enger Partner Armeniens, war immer wieder bei politischen Lösungen mit am Tisch, moderierte Friedensabkommen zwischen beiden Seiten.
Die Situation zwischen Aserbaidschan und Armenien spitzte sich bereits in den letzten Monaten gefährlich zu. Denn im September kam es zum ersten Mal auf armenischem Staatsgebiet und nicht wie sonst in Bergkarabach zu Gefechten zwischen beiden Seiten. Experten vermuten, dass das auch daran liegt, dass Russland in der Region an Einfluss verliere und Aserbaidschan damit neue Handlungsoptionen für sich sehe.
Die "gescheiterte Invasion in der Ukraine" habe das "überforderte Moskau weitgehend abgelenkt", meint beispielsweise Richard Giragosian, der das Regional Studies Center in Armenien gegründet hat. Ob im Südkaukasus oder in Zentralasien, wo es in diesem Sommer ebenfalls zu blutigen Kämpfen um Staatsgrenzen kam, es zeige sich ein "überraschend schwaches und ineffektives Russland".
Zeitgleich aber treten sowohl die USA als auch Europa in der Region immer stärker auf den Plan. So zeigte sich die EU prompt besorgt über die Blockade des Latschin-Korridors. Die Bewegungsfreiheit über diesen Korridor sei in der Erklärung zum Waffenstillstand 2020 von beiden Seiten, Armenien und Aserbaidschan, garantiert worden. Eine Beschränkung, teilte der Auswärtige Dienst der EU mit, verursache "schweres Leid für die örtliche Bevölkerung und schaffe humanitäre Probleme".