Türkei vor den Wahlen "Hier werden Frauen in Schach gehalten"
In der Türkei sehen sich viele Frauen in einem schwierigen Umfeld zwischen Religion und Patriarchat. Viele befürchten, dass sich ihre Lage - je nach Ausgang der Wahlen am 14. Mai - weiter verschlechtern könnte.
"In diesem Land werden Frauen in Schach gehalten" - empört sich die 20-jährige Defne. Und Frauenrechte würden immer weiter beschnitten: Zuerst steigt die Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt aus. Jetzt könnte es noch schlimmer kommen, sagt die linksgerichtete Politikerin Menekse Kizildere. Rechte Parteien, die Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Wahl unterstützen, wollten das Gesetz 6284 streichen, sagt sie. Es gilt als das wichtigste verbliebene zum Schutz von Frauen. "Es ist ihr Wahlversprechen, dieses Gesetz aufzuheben - so weit gehen sie", sagt Kizildere.
"Wie Afghanistan oder wie die Schweiz?
Auch der inhaftierte frühere Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, gibt sich alarmiert. Er nennt das Parteienbündnis von Erdogan mit Unterstützung der als islamistisch geltenden Hüda-Partei ein "Taliban-Bündnis" und fragt mit Blick auf die Wahlen: "Wird die Republik Türkei in ihrem zweiten Jahrhundert Afghanistan oder der Schweiz ähneln?"
Von der Schweiz und den Freiheitsrechten dort sei sein Land schon jetzt weit entfernt, sagt Erstwähler Aslan. Erdogan dulde weder Rechte für Minderheiten noch für Frauen. "Dass Erdogans Innenminister Süleyman Soylu die LGBT-Szene kriminalisiert, ihre Mitglieder quasi als Terroristen darstellt, am Frauentag Demonstrationen verbietet oder dass die Polizei bei Protesten unverhältnismäßige Gewalt anwendet - das zeigt, wie Erdogan und sein Bündnis auf Freiheiten im Land blicken."
Freiheiten gebe es vor allem für Männer, beklagt die 60-jährige Semran. Frauen stünden - bildlich gesprochen - immer in der zweiten Reihe: "Wir sind nirgendwo gleichberechtigt, nicht in der Gesellschaft, nicht zu Hause, nicht auf der Straße. Es gibt eine männliche Dominanz."
Umfrage zeigt: Frauen fühlen sich nicht wohl
Eine Studie von Ende 2022 bestätigt das. Die sozialdemokratische Stiftung SODEV hat sie gemacht - mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Türkei. Ein zentrales Ergebnis: Die meisten Frauen fühlen sich in ihrem Land nicht wohl, sagt Studienleiterin Yasemin Ahi dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul. "60 Prozent der Frauen sagen, dass sie eher unglücklich sind als Frau in der Türkei."
Und sogar mehr als 80 Prozent der Frauen fühlten sich abends auf der Straße nicht sicher. Als wichtigste Probleme nennen drei von vier sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen. Doch Täter kommen oft mit milden Strafen davon oder gehen ganz straffrei aus. Für Ahi ist das ein Versäumnis der Politik: "Straflosigkeit der Gewalttäter - das kann politisch geregelt werden."
Frauen könnten AKP abstrafen
Die Parteien sind hier allerdings im Hintertreffen. Zwar hat auch das Oppositionsbündnis etwa die Rückkehr zur Istanbul-Konvention nicht im Programm - vor allem wegen der konservativen Kräfte im Bündnis. Doch könnten Frauen die AKP von Erdogan besonders abstrafen. 2018 hätten 38,3 Prozent AKP gewählt, so Studienleiterin Ahi. Wenn jetzt Wahlen wären, würden 26 Prozent wieder AKP wählen.
Frauen machen rund die Hälfte der Gesellschaft aus. Ihr Votum könnte also wahlentscheidend sein. Und die Erwartungen der Frauen an die Politik, sagt Ahi, seien in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. In Schach halten lassen wollten sie sich nicht mehr.