Tote bei Verteilung von Hilfsgütern Rufe nach Untersuchung und Waffenstillstand
Nach dem tödlichen Vorfall rund um einen Hilfskonvoi in Nord-Gaza gibt es international Rufe nach einer unabhängigen Untersuchung. Besonders aus Frankreich gibt es nach Berichten von Schüssen auf hilfesuchende Zivilisten Kritik an Israel.
Nach dem Tod von vielen Menschen, die im Gazastreifen humanitäre Hilfe suchten, hat UN-Generalsekretär Antonio Guterres erklärt, der Vorfall erfordere eine unabhängige Untersuchung.
In einer Rede auf St. Vincent und den Grenadinen sagte Guterres, er sei schockiert über die jüngste Episode in dem Krieg. "Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen humanitären Waffenstillstand und die bedingungslose und sofortige Freilassung der Geiseln brauchen, und dass wir einen Sicherheitsrat haben sollten, der in der Lage ist, diese Ziele zu erreichen", so Guterres.
Nach bisher nicht unabhängig bestätigten Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde sollen bei dem Vorfall im nördlichen Gazastreifen mehr als 100 Palästinenser von israelischen Streitkräften erschossen worden sein, als sie auf eine Hilfslieferung warteten.
Israels Armee: Haben nicht auf Hilfesuchende geschossen
Das israelische Militär stellte den Vorgang anders dar. Die Armee habe am Donnerstagmorgen einen Lastwagenkonvoi mit humanitären Hilfsgütern koordiniert, der Bewohner im Norden des abgeriegelten Küstenstreifens erreichen sollte, sagte Armeesprecher Daniel Hagari.
Bei der Ankunft seien zahlreiche Menschen auf die Lastwagen gestürmt und es sei zu chaotischem Gedränge gekommen. "Einige fingen an, andere gewaltsam zu schubsen und zu Tode zu trampeln und plünderten die humanitären Hilfsgüter", sagte der Armeesprecher.
Ein anderer Sprecher des israelischen Militärs, Peter Lerner, sagte dem Fernsehsender CNN, nach ersten Erkenntnissen habe sich kurze Zeit darauf eine Gruppe von Menschen israelischen Soldaten genähert. Das Militär habe daraufhin Warnschüsse in die Luft abgegeben. Die Gruppe habe sich den Soldaten jedoch weiter genähert und eine Bedrohung dargestellt, woraufhin die Soldaten das Feuer eröffnet hätten.
Laut israelischen Medienberichten sollen sie auf die Beine gezielt haben. Eine Handvoll Menschen sei bei dem Vorfall verletzt worden, sagte Lerner. Der Vorgang werde untersucht. Auch Hagari betonte: "Wir haben weder auf Hilfesuchende noch auf den humanitären Konvoi geschossen, weder am Boden noch aus der Luft."
Paris kritisiert Israel
Frankreich reagierte tief betroffen auf die Berichte aus Nord-Gaza und kritisierte Israels Streitkräfte. "Der Beschuss von Zivilisten durch das israelische Militär bei dem Versuch, an Lebensmittel zu gelangen, ist nicht zu rechtfertigen", hieß es in einer Mitteilung des französischen Außenministeriums.
Präsident Emmanuel Macron schrieb auf X, vormals Twitter: "Ich bringe meine entschiedene Ablehnung gegenüber diesen Schüssen zum Ausdruck und fordere Wahrheit, Gerechtigkeit und die Einhaltung des Völkerrechts." Die Lage in Gaza sei dramatisch. "Die gesamte Zivilbevölkerung muss geschützt werden. Ein Waffenstillstand muss sofort in Kraft treten, damit die humanitäre Hilfe verteilt werden kann."
In der Mitteilung des Außenministeriums in Paris hieß es weiter, Frankreich erwarte, dass das schwerwiegende Vorkommnis vollständig aufgeklärt werde. "In jedem Fall liegt es in der Verantwortung Israels, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten und die Verteilung humanitärer Hilfe an die Zivilbevölkerung zu schützen."
USA drängen auf Informationen nach Schüssen auf Palästinenser
Auch in den USA - einem der engsten Partner Israels - sorgten die Berichte über die vielen Toten für Entsetzen. "Wir stehen seit heute Morgen in Kontakt mit der israelischen Regierung und wissen, dass eine Untersuchung im Gange ist. Wir werden diese Untersuchung genau verfolgen und auf Antworten drängen", sagte ein Sprecher des US-Außenamts am Abend.
Der Vorfall unterstreiche die Dringlichkeit, den Fluss humanitärer Hilfe in den Gazastreifen auszuweiten. Dies schließe einen möglichen vorübergehenden Waffenstillstand als Teil eines Geiselabkommens ein.
Ein "tragischer und alarmierender Vorfall"
Nach Angaben des Weißen Hauses telefonierte US-Präsident Joe Biden auch mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi und dem katarischen Emir Tamim bin Hamad al-Thani. In den Telefonaten hätten alle Beteiligten den Verlust von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung bedauert, so das Weiße Haus. Es handle sich um einen "tragischen und alarmierenden Vorfall". Man sei sich einig, dass dieser Vorfall die Dringlichkeit unterstreiche, die Verhandlungen so bald wie möglich abzuschließen und die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen auszuweiten.
Ägypten bezeichnete die Tötung zahlreicher Palästinenser als Verbrechen. "Es ist ein abscheuliches Verbrechen, friedliche Zivilisten anzugreifen, die sich beeilen, ihren Anteil an humanitären Hilfen zu erhalten", hieß es in einer Mitteilung, die das ägyptische Außenministerium veröffentlichte. "Es ist ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht und das humanitäre Völkerrecht und zeigt zudem Missachtung für die Unantastbarkeit von Menschenleben."
Botschafter: Gezielte Tötung von Palästinensern durch Kopfschüsse
Der palästinensische UN-Botschafter Riad Mansur warf Israel die vorsätzliche Tötung von Palästinensern vor. Tausende Menschen hätten sich an dem Ort im Norden der Region versammelt, sagte Mansur in New York, wo der UN-Sicherheitsrat in der Nacht zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkam. "Und dann begann die israelische Armee plötzlich, auf sie zu schießen und den uns vorliegenden Informationen zufolge haben Dutzende von ihnen Kugeln im Kopf. Es ist nicht so, als würde man in den Himmel schießen, um Menschen zurückzuhalten, wenn Verwirrung und Chaos herrschten. Es wurde absichtlich gezielt und getötet." Die Angaben können bislang nicht unabhängig überprüft werden.
Israelische Medien hatten unter Berufung auf Armeekreise berichtet, ein Teil der Menge sei aus nicht genannter Ursache auf israelische Soldaten zugekommen und habe diese gefährdet. Das Militär habe zunächst Warnschüsse in die Luft abgegeben und auf die Beine derjenigen gefeuert, die sich den Soldaten trotzdem genähert hätten. Auch diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Deutschland kündigt weitere humanitäre Hilfe an
Angesichts der verzweifelten Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von Israel, "umgehend sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe" zu ermöglichen. Die israelische Armee müsse "nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in weiten Teilen des Gazastreifens sicherstellen, dass die Verteilung von humanitärer Hilfe gelingen kann", so Baerbock. Die Lage der Menschen im Gazastreifen sei mit Worten kaum noch zu fassen.
Die Ministerin kündigte an, dass Deutschland seine humanitäre Hilfe für den Gazastreifen um weitere 20 Millionen Euro aufstocken wolle. Notfalls wolle sich Deutschland zusammen mit anderen Ländern, insbesondere Jordanien, auch an dem Abwurf von humanitärer Hilfe aus der Luft beteiligen.