Südafrikas Vorwürfe gegen Israel Worum es bei der Völkermord-Klage geht
Israel muss sich wegen des Vorwurfs des Völkermordes vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Premierminister Netanyahu sprach von einer "auf den Kopf gestellten Welt". Was würde eine Verurteilung bedeuten?
Was wirft Südafrika Israel vor?
In seiner 84-seitigen Klageschrift erhebt Südafrika den Vorwurf, dass Israel Völkermord an den Palästinensern begeht, indem es sie im Gazastreifen tötet, ihnen schwere seelische und körperliche Schäden zufügt und Lebensbedingungen schafft, "die darauf ausgelegt sind, ihre physische Zerstörung herbeizuführen". Die Rechtsvertreterin Südafrikas, Adila Hassim, sprach bei der ersten Gerichtsanhörung von einem "systematischen Muster, das auf Absicht des Völkermordes hinweist".
In der Klageschrift wird von Südafrika aufgeführt, dass Israel es versäumt, während des mehr als drei Monate dauernden Krieges gegen die radikalislamische Hamas die Bevölkerung im Gazastreifen mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, Treibstoff, Unterkünften und anderer humanitärer Hilfe zu versorgen.
Südafrika nennt zudem die hohe Zahl von mehr als 21.000 Toten im Gazastreifen, israelische Bombenangriffe, erzwungene Flucht von rund 1,9 Millionen der insgesamt etwa 2,3 Millionen Einwohner sowie Angriffe auf Krankenhäuser und Geburtskliniken. Das Land zitiert dabei UN-Experten, Zeugen und Hilfsorganisationen. Inzwischen ist die Opferzahl nach Angaben der Behörden in Gaza, die von der islamistischen Hamas kontrolliert werden, auf mehr als 23.000 angestiegen, Zehntausende wurden demnach verletzt. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.
Wie argumentiert Südafrika?
Auch werden Äußerungen israelischer Minister als Beleg für die Absicht des Völkermords angeführt. Südafrika spricht von "direkter und öffentlicher Anstiftung zum Völkermord". Zitiert werden Drohungen, Gaza unbewohnbar zu machen, sowie Forderungen von rechtsextremen Ministern, Palästinenser dauerhaft zu vertreiben. Unter dem Eindruck des Massakers der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober hatte Verteidigungsminister Joav Gallant etwa von "menschlichen Tieren" gesprochen und erklärt: "Wir werden alles auslöschen."
Südafrika wirft Israel nun vor, im Krieg gegen die Hamas die UN-Völkermordkonvention gebrochen zu haben. "Die Taten sind alle Israel zuzuschreiben, das es versäumt hat, Völkermord zu verhindern, und Völkermord unter offensichtlicher Verletzung der Völkermordkonvention begeht". Israel habe es auch unterlassen, die Anstiftung zum Völkermord durch seine eigenen Vertreter unter Verletzung der Völkermordkonvention einzudämmen. Südafrika fordert den Internationalen Gerichtshof (IGH) auf, Sofortmaßnahmen zu verhängen, um solche mutmaßlichen Verstöße durch Israel zu beenden.
Was ist die Grundlage für die Klage?
Die Vereinten Nationen (UN) verabschiedeten am 9. Dezember 1948 die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" als Reaktion auf den Holocaust und die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes im Zweiten Weltkrieg. Südafrika beruft sich in seiner Klage gegen Israel auf diese UN-Völkermordkonvention. Beide Staaten haben diese unterzeichnet und sich damit nicht nur verpflichtet, keinen Völkermord zu begehen, sondern auch diesen zu verhindern und zu bestrafen.
Als Völkermord oder Genozid definieren die UN Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Dazu zählt die gezielte "Tötung von Mitgliedern der Gruppe", aber auch Handlungen, die auf schwere körperliche oder seelische Schäden zielen, unzumutbare Lebensbedingungen, Maßnahmen zur Geburtenverhinderung oder die "gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe". Strafbar im Sinne des Völkerrechts ist bereits die Absicht, eine andere Gruppe auszulöschen.
Völkermord ist laut Juristen wegen des besonderen Vorsatzes zur Vernichtung einer Gruppe schwer nachzuweisen. Der Tatbestand fällt unter das Völkerstrafrecht, ebenso wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression. Es wurde zum ersten Mal bei den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio 1945 angewendet. Seitdem gab es lediglich zwei Urteile wegen Völkermordes: Zum Massaker in Srebrenica (ehemaliges Jugoslawien) im Juli 1995 und in Ruanda (April bis Juli 1994).
Wie reagiert Israel auf die Klage?
Israels Premierminister Benjamin Netanyahu bezeichnete die Klage Südafrikas als fehl am Platz. "Heute sahen wir wieder einmal eine auf den Kopf gestellte Welt, in der der Staat Israel des Genozids beschuldigt wird, zu einer Zeit, in der er einen Genozid bekämpft", sagte der rechtskonservative Politiker nach dem ersten Tag der Anhörung vor dem IGH. Die von Südafrika vorgetragenen Argumente bezeichnete er als "Chuzpe". "Eine Terrororganisation hat das schlimmste Verbrechen gegen das jüdische Volk seit dem Holocaust begangen, und jetzt kommt jemand daher, um es im Namen des Holocausts zu verteidigen", sagte er.
Der israelische Präsident Isaac Herzog hatte das Verfahren beim IGH zuvor als "grausam und absurd" bezeichnet. "Wir werden vor dem Internationalen Gerichtshof anwesend sein und stolz unseren Fall der Selbstverteidigung im Rahmen unseres inhärenten Rechts nach dem humanitären Völkerrecht präsentieren."
Eine schärfere Reaktion kam vom israelischen Außenministerium, das die Anwälte Südafrikas nach der ersten Gerichtsanhörung als "Vertreter der Hamas bei Gericht" bezeichnete. Das Auftreten der Anwälte vor dem IGH sei "eine der größten Vorführungen von Heuchelei in der Geschichte", die durch "eine Reihe von falschen und unbegründeten Behauptungen verschlimmert" worden sei.
Südafrika habe die Realität im Gazastreifen nach dem Massaker vom 7. Oktober völlig verzerrt, hieß es weiter. Südafrikas Regierung habe "völlig ignoriert, dass Hamas-Terroristen nach Israel eingedrungen sind, israelische Bürger ermordet, hingerichtet, massakriert, vergewaltigt und entführt haben, nur weil sie Israelis waren, in dem Versuch, einen Völkermord zu begehen".
Die Offensive des israelischen Militärs aus der Luft, vom Meer aus und am Boden ist eine Reaktion auf den überraschenden Angriff der von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuften Hamas auf den Süden Israels. Bei dem Überfall wurden nach israelischen Angaben 1.200 Menschen getötet, 240 Menschen wurden in den Gazastreifen verschleppt. Noch immer werden dort Geiseln festgehalten.
Zuvor hatten unter anderem die USA als Israels engster Verbündeter, Deutschland und Großbritannien erklärt, sie teilten die Einschätzung Südafrikas nicht.
Was geschieht bei der Anhörung?
Zunächst erläuterte Südafrika am ersten Tag der Anhörung seine Klage. Am 12. Januar hat Israel die Gelegenheit zu antworten. Beide Länder haben je zwei Stunden Zeit, ihre Argumente für oder gegen Sofortmaßnahmen vorzutragen. Zeugenaussagen oder Kreuzverhöre gibt es nicht. Die Präsentation besteht hauptsächlich aus juristischen Argumenten, die von Vertretern der beiden Staaten und ihren Teams internationaler Anwälte vorgebracht werden.
Bei der Anhörung geht es zunächst um einen Eilantrag Südafrikas. Es hatte den IGH aufgefordert, das sofortige Ende der militärischen Handlungen anzuordnen und die Rechte der Palästinenser zu schützen. Das heißt, dass die UN-Richter jetzt noch nicht feststellen müssen, ob tatsächlich Völkermord verübt wurde. Es würde die Möglichkeit ausreichen, dass die Konvention verletzt wurde - jedoch muss es auch deutliche Hinweise auf eine Absicht Israels geben, die Palästinenser auszulöschen.
Das Ersuchen um Sofortmaßnahmen ist somit ein erster Schritt in einem Fall, dessen Bearbeitung mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Sie sind als eine Art einstweilige Verfügung gedacht, um zu verhindern, dass sich ein Streit verschärft, während das Gericht den Fall insgesamt prüft.
Wann ist ein Urteil zu erwarten und ist es bindend?
Über den Eilantrag werden die Richter in wenigen Wochen entscheiden. Jeder Spruch ist bindend. Die Richter könnten Israel theoretisch auferlegen, die Gewalt sofort zu beenden, um weiteren Schaden zu verhindern. Sie könnten auch anordnen, dass Israel mehr humanitäre Hilfe zulassen muss. Der IGH hat zwar keine Machtmittel, um die Durchsetzung zu erzwingen. Doch der internationale Druck auf Israel würde sich erhöhen und eine negative Entscheidung könnte dem Ruf des Landes schaden.
Eine endgültige Entscheidung über die Völkermordvorwürfe Südafrikas wird das Gericht erst dann treffen, wenn der Fall in der Sache verhandelt wird. Es ist nicht ungewöhnlich, dass zwischen der ursprünglichen Klageerhebung und der tatsächlichen Verhandlung des Falles mehrere Jahre vergehen.
Was ist der Internationale Gerichtshof?
Der Internationale Gerichthof ist das höchste Rechtsorgan der UN und wird daher auch Weltgericht genannt. Der 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Gerichtshof befasst sich mit Streitigkeiten zwischen Staaten. Er unterscheidet sich hier vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Dieser sitzt ebenfalls in Den Haag, behandelt aber Fälle von Kriegsverbrechen, die Einzelpersonen vorgeworfen werden.
Dem IGH gehören 15 Richterinnen und Richter an. Sowohl Israel als auch Südafrika dürfen jeweils einen Richter zusätzlich zum permanenten Kollegium entsenden. Südafrika vertritt der Richter Dikgang Ernest Moseneke, ein ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof des Landes. Die südafrikanische Delegation wird von Justizminister Ronald Lamoa geleitet. Israel schickt den früheren Richter am Obersten Gerichtshof, Aharon Barak, einen Überlebenden des Holocaust. Die Palästinenser, deren Schicksal Gegenstand des Verfahrens ist, spielen in Den Haag keine offizielle Rolle, denn sie sind kein Mitgliedsstaat der UN.
Warum tritt Südafrika hier als Kläger auf?
Jeder Unterzeichnerstaat der Völkermordkonvention kann eine entsprechende Klage beim IGH einreichen. In Südafrika solidarisieren sich seit vielen Jahren vor allem Vertreter der muslimischen Minderheit sowie der schwarzen Bevölkerungsmehrheit mit den Palästinensern. Diese würden vom "Apartheidstaat" Israel ebenso unterjocht wie einst die Südafrikaner vom weißen Regime, meinen sie.
Bisher schaffte die Regierung in Pretoria einen komplizierten Spagat zwischen Palästina-Solidarität und den eher pragmatischen Handels- und konsularischen Beziehungen zu Israel. Etliche jüdische, fast ausschließlich weiße Südafrikaner sind Doppelstaatsbürger. Der Krieg im Gazastreifen brachte jedoch eine Wende. Im November zog Präsident Cyril Ramaphosa Südafrikas Diplomaten aus Tel Aviv ab. Kurz danach stimmte das südafrikanische Parlament sogar dafür, die israelische Botschaft in Pretoria zu schließen.
(Quelle: dpa, AP, Reuters)