Urnengang in Kasachstan "Warum wählen gehen?"
Viele Kasachen geben nicht viel auf die Wahl des Präsidenten. Sie haben noch gut in Erinnerung, wie brutal der die Proteste im Januar niederschlagen ließ. Ist es nur eine Frage der Zeit bis zu neuen Unruhen?
Es ist ein Spießrutenlauf der Verzweifelten. Seit Tagen versuchen gut zwei dutzend Kasachen, "ihren Präsidenten" zu treffen. In einem autoritär regierten Land, in dem niemand auch nur in die Nähe des Präsidentenpalastes vorgelassen wird, könnte das naiver kaum sein. Doch die Menschen hier sind verzweifelt. Es ist ihre letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Sie quetschen sich neben Sicherheitsschleusen, streiten mit Wachmännern. Laufen von Parteizentrale zur Präsidialverwaltung. Haben Briefe geschrieben und schreien am Ende, in einem dunklen Hintereingang eines riesigen Gebäudes, wo sie seit Stunden warten, "Tokajew! Tokajew!".
Warten auf Gerechtigkeit
Da ist die Landwirtin, die Weizen anbaut. Die einst Land vom Staat bekommen hatte und der es nun von Gerichten genommen wurde. Ihr Zug durch juristische Instanzen: erfolglos. Da ist die über 60-jährige Frau, die mit Sohn und Enkel in einem Mehrfamilienhaus mit Einsturzgefahr lebt. Der Boden ihrer Wohnung sei abgesunken, die Badewanne habe Risse, erzählt sie. Seit sieben Jahren klage sie gegen den Bauherrn: vergebens.
Da ist die Mutter, die wie Hunderte andere eine Eigentumswohnung kaufte, ohne zu wissen, dass der Baufirma die Baugenehmigung für das Gebäude fehlte. Vor ihre Tür führt deshalb keine Straße, es gibt kein Abwassersystem. Und das mitten in der kasachischen Hauptstadt Astana. Sie könnte nicht wählen gehen, erzählt sie, und ihren Sohn auch nicht an einer öffentlichen Schule anmelden. Dennoch dürfe die Baufirma bis heute unbehelligt weiterbauen.
Wahl ohne Wahl
Auch wegen solcher Fälle lachen viele Kasachen über die jüngst aufgehängten Wahlplakate: "Für ein gerechtes Kasachstan" steht dort auf hellblauen Hintergrund geschrieben. Ein Foto des alten - und wahrscheinlich auch des neuen - Präsidenten ist nirgends zu sehen. Warum auch? Jeder kennt sein Gesicht so oder so. Denn Kassim-Schomart Tokajew regiert bereits seit drei Jahren, und wirkliche Gegenkandidaten gibt es bei der anstehenden Wahl nicht.
Von keinem der Kandidaten hätte er je etwas gehört, geschweige denn gesehen, erzählt ein Taxifahrer, der vier Kinder hat. "Schiguli" heiße einer - das sei ja wohl der größte Witz, lacht er. Ein Kasache mit dem Namen der berühmten russischen Fahrzeugreihe aus der Sowjetunion? Wählen gehen werde er nicht, winkt er ab und scherzt: Den Vorgänger Nursultan Nasarbajew hätten sie fast 30 Jahre lang ausgehalten, da würden sie die nächsten sieben Jahre mit Tokajew auch noch schaffen.
"Kandidaten sind Parade von Rentnern"
Noch nie seit dem Ende der Sowjetunion hätte es in Kasachstan Wahlen gegeben, die nach Zeitplan gelaufen seien, erzählt Nurzhan Altajew. Er ist das, was man in Kasachstan Opposition nennt. Die Präsidenten hätten immer selbst bestimmt, wann ihnen eine Wahl gelegen käme, erzählt er. Und so hatte der amtierende Präsident auch dieses mal die Verfassung umgeändert: Die Präsidentschaft von fünf auf sieben Jahre verlängert und zeitgleich um zwei Jahre vorgeschoben. Um kein Jahr Amtszeit zu verlieren.
Der 44-jährige Nurschan Altajew wollte bei der Wahl kandidieren. Er wäre der jüngste unter den Kandidaten gewesen, die er eine "Parade von Rentnern" nennt. Aber er erhielt die Zulassung nicht. Und das, obwohl er - so gibt er schmunzelnd zu - nur ein "loyaler Oppositioneller" sei. Ein radikaler Oppositioneller sei er nicht. Im Gegenteil: Er war Abgeordneter im Parlament, habe den Staatsorganen gedient. Doch selbst einer wie er wurde nicht zur Wahl zugelassen.
"Eine Wahl ohne Wahl" - steht auf einem Plakat des Oppositionellen Nurschan Altajew.
23 Versuche der Registrierung
23 mal habe er versucht, eine eigene Partei zu registrieren. Erfolglos. Seit elf Jahren, erzählt er, sei keine neue Partei in Kasachstan mehr zugelassen worden. Dabei sei eine Bedingung, um sich überhaupt für die Wahl aufstellen lassen zu können, von einer Partei oder einer politischen Bewegung nominiert zu werden.
Das sei eine von vielen Vorgaben, zählt Altajew auf: So müssen Kandidaten außerdem in Kasachstan geboren sein, mindestens fünf Jahre im Staatsdienst gearbeitet und die letzten 15 Jahre hier gelebt haben. Vorgaben, die, so schätzt er, 95 Prozent der Bevölkerung ausschließen würden. Und auch nicht auf den amtierenden Präsidenten Tokajew zuträfen.
Unterdrückung mit Hilfe Russlands
Dass Präsident Tokajew ausgerechnet jetzt wiedergewählt werden wolle, zeige seine Schwäche, meint Altajew - und auch, wie unbeliebt er sei. Tatsächlich hätte das Volk die Januar-Unruhen nicht vergessen, mahnt auch Dmitrij Masorenko. Er ist Redakteur bei Vlast.kz, eines der wenigen unabhängigen und investigativen Medien in Kasachstan. Am Eingang des Wohnblockes verrät kein Schild, dass sich die Redaktion dahinter verbirgt.
Dmitrij Mazorenko, Redakteur beim Portal "Vlast.kz", hält die vorgezogene Wahl eher für ein Zeichen von Tokajews Unbeliebtheit.
Anfang des Jahres kam es vor allem im Süden des Landes zu den größten Protesten seit mehr als einem Jahrzehnt. Präsident Tokajew rief die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit um Hilfe. Ins Land kamen Truppen unter russischer Führung. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen: Es starben mehr als 200 Menschen, auch Kinder.
Naserbajew, Tokajew - ganz egal
Dabei sei es, so Masorenko, vollkommen gleich, wer regiere. Die Forbes-Liste der reichsten 50 Kasachen sei heute die gleiche, wie noch vor den Januarunruhen oder unter Nasarbajew. Geändert habe sich mit Tokajew lediglich das Gesicht des Regimes und ein wenig die Rhetorik, doch die Politik sei die gleiche geblieben.
Das attestiert auch der Politologe Dimash Alzhanow. Jegliche Reformen, die Tokajew versprochen hätte, wie beispielsweise die Stärkung des Parlaments, seien Scheinreformen. Viel zu erwarten sei von seiner kommenden Präsidentschaft deshalb nicht. Im Gegenteil.
Die nächsten sieben Jahre würden schwer, vor allem, wenn die Inflation von fast 20 Prozent weiterhin das eh schon niedrige Gehalt der Kasachen auffresse. Altajew, Masorenko, Alschanow: Sie alle sind sich einig, dass es deshalb nur eine Frage der Zeit sei, bis sich ähnliche Unruhen wie im Januar wiederholen würden.
Und so werden auch die unzufriedenen Kasachen im Hintereingang des Regierungsgebäudes am Ende nicht von Tokajew empfangen werden. Wenig überraschend. Ihre Unzufriedenheit mit dem System aber bleibt.