Nach Erdogans Wahlsieg Wohin steuert die Türkei?
Wie geht es nach Erdogans Wahlsieg in der Türkei weiter? Dass Erdogan die Demokratie nun ganz beseitigen werde, glaubt der Politikwissenschaftler Bagci nicht. Aber Erdogan könne jetzt im Ausland noch selbstbewusster auftreten.
Die Türkei erlebt historische Tage: Zum ersten Mal gab es eine Stichwahl um das Präsidentenamt, und auch der Sieger Recep Tayyip Erdogan schreibt Geschichte.
"Dass Tayyip Erdogan noch fünf Jahre gewählt ist, ist auch in unserer Geschichte - 100 Jahre sind es dieses Jahr - einmalig", sagt der Politikwissenschaftler Hüseyin Bagci in Ankara. "Wir haben nie einen Politiker gehabt, der 25 Jahre lang an der Regierung sein wird. Er ist, historisch gesehen, eine Ausnahme-Persönlichkeit in der türkischen Geschichte."
Wahlbeobachter kritisieren Umstände der Wahl
Frank Schwabe, Leiter der internationalen Wahlbeobachter-Mission des Europarates, lässt in seiner Bilanz zur Wahl keinen Zweifel: "Die zweite Runde der Präsidentschaftswahl brachte einen klaren Gewinner. Nichtsdestotrotz hat auch die zweite Runde, wie schon die erste, in einem Umfeld stattgefunden, das in vielerlei Hinsicht nicht die Erfordernisse für demokratische Wahlen erfüllte."
Beobachter kritisieren die ungleichen Chancen der Kandidaten in den Medien der Türkei, also die deutliche Überrepräsentanz Erdogans im Vergleich zu seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Außerdem lasse die oberste nationale Wahlbehörde, die die Wahlen überwacht, Transparenz vermissen.
Kritik auch an Herausforderer Kilicdaroglu
Schwabe kritisiert auch Aussagen des Wahlkampfes: "Ich möchte wirklich, nach den Kampagnen mit Gewalt- und Hassreden gegen Minderheiten, dazu auffordern, das zu unterlassen. Ob die sich nun gegen LGBTQI von der einen Seite des politischen Spektrums richten oder gegen Flüchtlinge, was wir in der zweiten Runde von der anderen Seite des politischen Spektrums erlebt haben."
Schwabe spricht damit den verschärften Ton im Wahlkampf Kilicdaroglus in der zweiten Runde an, der sich etwa gegen Flüchtlinge wandte. Man werde die Entwicklungen in der Türkei weiter beobachten.
Kilicdaroglu kündigt nach der Wahl an, weiter für Demokratie zu kämpfen. Politikwissenschaftler Bagci schaut weniger pessimistisch auf die Lage seines Landes: "Die Türkei ist und wird demokratisch bleiben. Tayyip Erdogans Versuch, die Türkei aus der demokratischen Welt herauszulösen, wird nicht möglich sein, weil die Europäische Union zum Beispiel eine - wie wir sagen - strukturelle Macht ist." Die Türkei sei Teil aller Institutionen.
Türkei will EGMR-Urteil nicht umsetzen
Nur dass die Türkei Menschenrechtsurteile nicht umsetzt. Erdogan hat in seiner Balkon-Rede nach der Wahl erneut klar gemacht, dass er den inhaftierten früheren Vorsitzenden der oppositionellen Partei HDP, Selahattin Demirtas, nicht freilassen will - auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dies angeordnet hatte. Eigentlich müsste der Europarat deshalb Konsequenzen ziehen und die Türkei ausschließen. Vor der Wahl ist das nicht passiert.
Politikwissenschaftler Bagci weist in diesem Zusammenhang auf die Glückwünsche an Erdogan hin, die die Spitzen der EU und auch Bundeskanzler Olaf Scholz nach der Wahl übermittelten. "Die Türkei ist ein Land, das Europa nicht verneinen kann. Wirtschaftspolitisch, militärisch und auch was die Menschen angeht, so viele Leute leben in Europa."
Erdogan werde nach der gewonnenen Wahl mit deutlich mehr Rückenwind in Brüssel und den anderen westlichen Hauptstädten auftreten, ist sich Bagci sicher. Die Stichwahl führe der türkische Präsident dabei als Beweis für demokratische Wahlen in seinem Land an. Die Kritik der internationalen Beobachter dürfte ihn davon nicht abhalten.