Ukrainisch-belarusische Grenze Das Gespenst der dritten Front
Im Vergleich zu den Fronten im Osten und Süden ist es im Nordwesten der Ukraine an der Grenze zu Belarus ruhig. Doch eine Invasion aus Belarus hängt wie ein Gespenst über der Region. Soldaten trainieren für den Ernstfall.
In Dreierformationen bewegen sich zwei Soldatengruppen über sandiges Gelände in kleinen Schritten vorwärts und lassen Gewehrsalven ertönen. Alle paar Meter rotieren sie, und der nächste Schütze feuert auf umliegende Sanddünen oder die 100 Meter entfernten Zielscheiben.
In einem Kiefernwald in der Region Wolhynien im Nordwesten der Ukraine trainiert ein Schützenbataillon der Territorialen Verteidigung - einer Einheit von Reservisten und Freiwilligen. Mykola hat an diesem Morgen eine geradezu ruhige Schicht. Er sitzt an einem Tisch und verteilt Magazine für die Gewehre:
Es geht darum, das zielgenaue Schießen auf schwierigem Terrain zu trainieren. Und es geht darum, sich an Explosionen zu gewöhnen - zu lernen, wie man sich dann verhält.
Eine Panzerabwehrmine detoniert daraufhin und erschüttert das Gelände. Mykola lässt dies geradezu kalt. Die reale Gefahr droht hier. Wenige Kilometer weiter nördlich grenzt die Ukraine an Belarus - ein Land, das Russland bei seiner Invasion logistisch unterstützt.
Spekulation über neue Offensive
Seit Monaten wird zudem über eine erneute Offensive aus Belarus spekuliert, diesmal auch in dieser Region. Sollen sie doch kommen, sagt Mykola: "Die Stimmung bei uns ist super. Niemand hat Angst, alle sind bereit. Ich selbst bin seit dem 24. Februar, 6 Uhr morgens hier - wie alle anderen freiwillig."
Olga wirkt weniger lässig. Die Militärärztin erklärt mit ernster Miene, worauf es bei den Übungen außerdem ankommt: "Wir gehen Notfallsituationen durch. Auch lebensgefährliche Verwundungen, die man selbst versorgen kann. Etwa, indem man Blutungen abbindet."
In Wolhynien ist bisher kein einziger Gewehrschuss gefallen. Viele hier haben in Belarus Verwandte, mit denen sie zum Teil immer noch in Kontakt stehen. So wie Anatolij, ein Mann mit 25 Jahren Militärerfahrung, Vater und Großvater: "Bis zur Invasion hatten wir mit Belarus gute Beziehungen, haben uns gegenseitig besucht. Meine Schwägerin lebt dort. Sie ruft immer noch oft an und fragt, wie es uns geht."
Doch Verwandtschaft spiele keine Rolle mehr, betont Kommandeur Vlad. Man müsse sich auf den Ernstfall vorbereiten, die Anspannung wachse:
Nach unserer Kenntnis konzentrieren Russland und Belarus immer mehr Truppen an der Grenze. Russland erreicht im Osten der Ukraine seit Monaten wenig. Ich denke deshalb, dass uns beide Armeen attackieren könnten.
Viele Sümpfe und Wälder
Zügig schreitet Vadim durch ein verwinkeltes, 1,5 Meter tiefes Labyrinth. Dass die Schützengräben in der ukrainisch-belarusischen Grenzregion vor nicht langer Zeit errichtet wurden, verrät der frische Duft und die helle Farbe des Holzes, mit dem sie befestigt sind. Es wirkt, als würde sich das Bataillon für längere Zeit hier einrichten.
Vadim ist ein Reserveoffizier, er hat nach 2014 im Donbass gekämpft. Seit der Invasion hält er im Nordwesten der Ukraine Stellung und sieht seine Seite im Vorteil: "Aus militärischer Sicht ist eine Offensive aus Belarus sinnlos. Alles spricht zu unseren Gunsten, sogar die Natur ist auf unserer Seite. Außerdem haben wir einige Überraschungen parat."
Kommandeur Vlad bei den Übungen im Kiefernwald in der Region Wolhynien im Nordwesten der Ukraine.
In der Grenzregion gibt es viele Sümpfe und Wälder. Im bisher milden Winter ist der Boden überdies kaum gefroren, was die Bewegung von schwerem Gerät behindern würde. Zudem sei das Gebiet weiträumig vermint worden, wie es heißt.
Doch auch wenn hier in elf Monaten Krieg noch nicht gekämpft worden sei, halte man die Spannung aufrecht, erklärt Vadim: "Nur weil vermeintlich nichts passiert, heißt es nicht, dass ich mich zurücklehnen kann. Als ich im Osten gekämpft habe, hat mich Stille verängstigt. Wir müssen hier jederzeit kampfbereit sein, weil wir nicht genau wissen, was unser Gegner plant."
Lob für deutsche Militärtechnik
Auch ohne aktive Kämpfe im Nordwesten seien die permanenten Übungen sinnvoll, ergänzt der Offizier. Denn immer wieder würden auch Kämpfer an die Fronten im Osten und Süden abkommandiert. Durch die Übungen seien sie mental darauf vorbereitet.
Mit Blick auf die Ausrüstung äußert sich Vadim fast diplomatisch. Auf die Diskussion um "Leopard 2"-Panzer geht er nicht direkt ein. Er lobt aber nachdrücklich deutsche Militärtechnik: "Wir brauchen neue Panzer. Die sowjetischen Modelle T-72 haben sich nur bedingt bewährt. Ähnlich ist es bei Artillerie. Die Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland ist sehr kampfstark und wird bei Gefechten viel seltener zerstört. Mit ihr fühlen sich unsere Soldaten in ihren Kampfpositionen sicherer."
Training als Schutzmaßnahme
Nach zwei Stunden gehen die Schießübungen inmitten der Sanddünen im Kiefernwald zu Ende. Anatolij, der Vater und Großvater, wirkt entschlossen, aber nachdenklich: "Wir wünschen uns alle, dass der Krieg so bald wie möglich endet. Dass wir zu unseren Familien zurückkehren können. Ich denke, die Belarusen möchten nicht gegen uns kämpfen. Sie könnten aber von Russland dazu gedrängt werden."
Auch Militärärztin Olga glaubt nicht, dass in der Ukraine zeitnah die Waffen schweigen. Ob auch ihre Heimatregion Wolhynien zum Schauplatz wird?
Im besten Fall ist es bald zu Ende. Im schlechtesten Fall gibt’s hier Kämpfe. Es ist eben Krieg. Natürlich ist es möglich, dass von Belarus aus ein Angriff kommt. Was wir tun können, ist zu trainieren.