Augenzeuge in Beirut "Trifft ein Land, das schon am Boden liegt"
Nach den Explosionen in Beirut helfen sich die Einwohner mit Solidarität durch die Not, berichtet Malte Gaier von der Konrad-Adenauer-Stiftung vor Ort. Sie haben nicht nur diese eine Krise zu bewältigen.
Bei den schweren Explosionen in der libanesischen Hauptstadt sind mehr als 100 Menschen getötet und Tausende verletzt worden. Malte Gaier leitet das Auslandsbüro Libanon der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut. Er berichtet am Tag nach der Detonation aus der Stadt.
tagesschau.de: Das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung im Libanon liegt etwa zwei Kilometer vom Ort der schweren Explosionen in Beirut entfernt. Wie haben Sie die Ereignisse erlebt?
Gaier: Im Büro hat man diese Schockwelle gespürt und kurz darauf die Detonation gehört. Zunächst war es schwierig zu lokalisieren, woher das genau kommt. Das hat hier auch zu viel Panik und für Spekulationen über informelle Kommunikationssysteme geführt: WhatsApp-Gruppen, Sprachnachrichten, die teilweise ohne Prüfung des Absenders weitergestreut werden.
Wir haben ein großes Problem mit Fake News, die natürlich genau in so einer unklaren Situation nicht gerade zielführend sind. Etwa wurde am Anfang die Möglichkeit eines Terroranschlags, auch eines Militärschlags nicht ausgeschlossen. Noch bis heute früh kursierte das Gerücht, dass man kurz vor der Detonation Fluggeräusche gehört habe. Eine Zeugenaussage beharrte darauf, eine Drohne gesehen zu haben. Dann war relativ schnell klar, dass es ein Chemieunfall am Hafen ist. Die Nachrichten- und Informationslage hat sich stündlich geändert, wie sie es auch jetzt noch tut.
Im Freundes- und Bekanntenkreis gibt es natürlich viele sehr traurige Meldungen, die uns stündlich erreichen. Das geht von Verletzungen über Todesfälle bis hin zur Zerstörung der Wohnhäuser oder der Apartments - und ich befürchte, dass wir in den kommenden Tagen davon noch mehr hören müssen.
"Zwischen Schock und Entsetzen"
tagesschau.de: Was passiert heute in Beirut am Tag nach den Detonationen?
Gaier: Die Stimmung schwankt zwischen Schock und Entsetzen. Sobald wir hier wieder Tageslicht hatten am frühen Morgen, hat man auch gleich schon die Aufräumarbeiten gehört - der Hintergrund ist, dass wir schon in den Wochen davor nur eine sehr unzureichende Stromversorgung hatten aufgrund der aktuellen Krisen im Land. Gestern Abend wurde der Strom in den meisten Gebäuden abgeschaltet, beziehungsweise wurden die Generatoren aus Angst, dass sie vielleicht beschädigt werden, nicht mehr gestartet. Fahrstühle, Gas- und Stromleitungen fielen aus und mussten erst einmal gesichert werden.
tagesschau.de: Wie gehen die Menschen mit dem Schrecken um?
Gaier: Was mich sehr nachdrücklich beeindruckt hat - und schon am gestrigen Abend losging: die Aufräumarbeiten, das Klingeln bei den Nachbarn, ob man helfen kann, ob man jemanden ins Krankenhaus fahren kann. Es war ein sehr hoher Grad an Solidarität zu spüren, die sich jetzt sicher auch verstärkt auf das Land ausbreitet.
Heute konzentriert sich alles noch auf die Ereignisse. Die Nation sitzt gebannt vor den Fernsehern. Es gibt Spendenaufrufe, Hilfsorganisationen werden vorgestellt. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten wird auch versucht, viel auf Graswurzelebene zu helfen.
In Statements von offizieller Seite wird betont, dass das eine nationale Tragödie ist. Gestern wurde der Großraum Beirut zum Katastrophengebiet erklärt. Derzeit überwiegen Trauer und Bemühungen, die Krise möglichst schnell zu bewältigen - vielleicht auch mit dem gesamtgesellschaftlichen Gefühl, wie wir das aus vergleichbaren Katastrophen auch kennen: etwa die öffentliche Solidarität und der Schultersschluss zwischen ehemaligen politischen Gegnern nach 9/11 in den USA. Möglicherweise haben wir das in kleinerem Format in einer libanesischen Variante auch.
"Kapazität der Krankenhäuser erschöpft"
tagesschau.de: Schon vor der schweren Explosion war der Libanon krisengeplagt. In welchem Zustand trifft ihn das Unglück?
Gaier: Diese Katastrophe trifft ein Land, das schon am Boden liegt. Wir hatten dreieinhalb Monate den Corona-Lockdown, der wirtschaftlich enormen Schaden verursacht hat. Es haben innerhalb weniger Monate bis zu Tausend Restaurants, Bars und andere Gastronomiebetriebe geschlossen. Auch wegen der Inflation und einer akuten Versorgungskrise, die sich durch das Verbot von Importen zunehmend auswirkt, hat man in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder Zahlungsprobleme und Schließungen erlebt. Jetzt wird die Lage noch einmal erheblich erschwert.
tagesschau.de: Wie ist die Situation in den Krankenhäusern?
Gaier: Die Informationen, die wir bekommen hatten, waren, dass gestern Abend die Aufnahmekapazität der Krankenhäuser erschöpft war - insbesondere der privaten Kliniken. Wir hatten schon in den letzten Wochen starke Krisensymptome wegen zunehmender Coronavirus-Fälle: Bestimmte Krankenhäuser konnten vorübergehend nicht mehr mit Elektrizität versorgt werden, Intensivbetten gingen aus, ebenso medizinische Ausstattung und vor allem Medikamente - was wiederum mit der Schwierigkeit des Imports und der Währungskrise zusammenhängt.
tagesschau.de: Was kommt nun auf den Libanon zu?
Gaier: Es geht jetzt kurzfristig erst einmal darum, Verletzte zu versorgen, Vermisste aufzufinden. Dann wird der Schaden durch die Zerstörungen mit enormen Kosten verbunden sein. Die Verluste werden auf bis zu fünf Milliarden US-Dollar beziffert. Wir haben bis zu eine viertel Million Obdachlose - das sind erste Einschätzungen von offizieller Seite, aber auch von Journalisten und Beobachtern.
tagesschau.de: Was bedeutet das konkret für die Arbeit Ihrer Stiftung?
Gaier: Unsere Arbeit wird sich an der neuen Situation ausrichten müssen. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten angesichts der ganz schwierigen wirtschaftlichen Lage mit Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation mehr und mehr geschaut, wo wir im Rahmen unserer Möglichkeiten der Bevölkerung helfen können: auf Graswurzelebene, mit lokalen NGOs; zum Beispiel durch die Einrichtung von Jobportalen, auf denen Libanesen digital Aufträge libanesischer Diaspora-Unternehmer - etwa aus den USA und Australien - übernehmen können.
Die Fragen stellte Jasper Steinlein, tagesschau.de.