Streiktag in Belarus "Es gibt einen großen Freiheitswunsch"
Der Streiktag in Belarus war nach Einschätzung von ARD-Korrespondent Angerer ein Erfolg für die Opposition, da sich viele beteiligt hätten. In der Gesellschaft habe sich etwas geändert, das nicht rückgängig gemacht werden könne.
tagesschau.de: Kommen die Beschäftigten, kommt die Bevölkerung dem Streikaufruf nach?
Jo Angerer: Es ist zwar kein Generalstreik geworden, aber es gab an ganz vielen Orten punktuelle Streiks für ein paar Stunden und Versammlungen, auch an den Staatsbetrieben. Die sind für die Opposition besonders wichtig, weil dort viele Beschäftigte sind. Es gab einige große Demonstrationen mit einigen Tausend Teilnehmern - und leider wieder Polizeigewalt. Mehr als 340 Menschen wurden festgenommen.
tagesschau.de: Das knüpft an die Ergebnisse der vergangenen Nacht an.
Angerer: Es knüpft nahtlos an den gestrigen Tag an, als es auch massive Polizeigewalt gab und die Polizei Blend- und Tränengasgranaten einsetzte. Die Regierung Lukaschenko ersucht diesen Prozess mit aller Macht zu unterdrücken.
Wie lange hält der Streikwille?
tagesschau.de: Für wen ist der Streiktag ein Erfolg?
Angerer: Ich sehe es als einen Erfolg der Opposition. Viele hatte eine sehr viel geringere Streikbeteiligung erwartet und hatten auch nicht damit gerechnet, dass es am Tag nach der großen Demonstration vom Sonntag wieder große Kundgebungen geben wird. Man muss aber abwarten, ob das dauerhaft ist. Es gab unmittelbar nach den Wahlen einen Versuch eines Generalstreiks, der schnell in sich zusammengebrochen ist, weil viele Beschäftigte in den Staatsbetrieben Angst hatten, ihren Job zu verlieren.
tagesschau.de: Haben sich andere Gruppen an dem Protest beteiligt?
Angerer:: Es gab Studentendemonstrationen. Traditionsgemäß gehen am Montag Rentner auf die Straße, nun waren es Studenten, von denen gleich mehrere Demonstrationszüge ausgingen, die sich später vereinigten. Auch an den Universitäten wurde gestreikt.
Die Polizei greift hart gegen die Demonstranten durch. Das hat den Widerstandswillen in Belarus bislang nicht brechen können.
"Lukaschenko versucht, die Opposition zu spalten"
tagesschau.de: Lukaschenko hat bislang auf eine Mischung aus Aussitzen und Zermürbung sowie auf Gewalt gesetzt. Kommt diese Strategie an eine Grenze?
Angerer: Lukaschenko versucht derzeit, die Opposition in ein - aus seiner Sicht - moderates und ein radikales Lager zu spalten. Mit den Moderaten versucht er zu reden und hat sich mit einigen aus politischen Gründen Inhaftierten auch schon im Gefängnis getroffen. Die Radikalen versucht er, mit Gewalt zu bekämpfen. Das wird nicht ewig so weitergehen. Die Frage wird sein: Kommt ein Dialog zustande, wie kommt er zustande, und natürlich: Wie lange stützt Putin Lukaschenko noch. Bislang steht Russland hinter ihm, das kann sich aber ändern.
tagesschau.de: Was hat Lukaschenko der Opposition überhaupt zu bieten?
Angerer: Lukaschenko will eine Verfassungsreform, die die Macht des Präsidenten ein bisschen einschränkt und dem Parlament ein bisschen mehr Macht gibt. Mittel- oder langfristig würde es Neuwahlen geben, bei denen er dann möglicherweise nicht mehr antritt. Er hat insofern relativ wenig zu bieten, und ich glaube nicht, dass sich die Opposition darauf einlassen wird.
tagesschau.de: Haben sich - abgesehen vom Streik - die Atmosphäre und Stimmung in Minsk in den vergangenen Wochen verändert?
Angerer: Es haben sich zwei Dinge verändert. Wir erleben eine immer schärfere Polizeigewalt, und wir erleben einen Stimmungswandel in der Bevölkerung. Es gibt einen großen Freiheitswunsch, nicht nur bei jungen Menschen. Und das lässt sich nach meiner Einschätzung nicht mehr zurückdrehen - dafür hat sich in der Gesellschaft zu viel verändert.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de