Beschädigte Häuser im Westen der Stadt Deir Al Balah
interview

Verhandlungen in Nahost "Menschenleben zählen für Hamas nicht"

Stand: 25.08.2024 18:37 Uhr

Zehn Monate nach Kriegsbeginn in Gaza ruhen alle Hoffnungen auf den aktuellen Verhandlungen. Was macht ein Abkommen so schwierig? Einblicke des früheren BND-Agenten Gerhard Conrad, der selbst zwischen Israel und Hamas vermittelt hat.

tagesschau.de: In Kairo sollen derzeit Gespräche über eine Waffenruhe in Gaza fortgesetzt werden. Kurz davor hat die libanesische Hisbollah einen Großangriff auf Israel begonnen. Hat Sie der Zeitpunkt überrascht?

Gerhard Conrad: Israels Militär hatte noch am Abend gewarnt, dass uns eine schicksalhafte Woche bevorsteht. Es hatte sich also angekündigt. Einen Zusammenhang zu den Gesprächen sehe ich zunächst nicht unbedingt - und sie scheinen ja auch fortgesetzt zu werden.

tagesschau.de: Die Verhandlungen laufen seit Monaten ohne erkennbare Fortschritte. Welche Erwartungen haben Sie an das aktuelle Treffen?

Conrad: Meistens ist es so: Je mehr öffentlich über Zwischenstände gesprochen wird, desto unwahrscheinlicher ist ein Erfolg. Solche heiklen Deals können nur im Geheimen gelingen. Und aktuell wird ja nun sehr viel geredet.

Gerhard Conrad
Zur Person

Gerhard Conrad hat fast 30 Jahre für den Bundesnachrichtendienst (BND) gearbeitet. Als Vermittler war er selbst im Nahen Osten an Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas, aber auch der Hisbollah beteiligt.

"Die wollten nur ihre Helden zurück"

tagesschau.de: Was macht ein Abkommen bislang so schwierig?

Conrad: Sehen Sie, Sie haben in dieser Sache ein Grundproblem: Die Hamas ist kein normaler Verhandlungspartner. Hamas ist nicht mit den Maßstäben zu messen wie eine Regierung, die eine Verantwortung gegenüber ihrer Bevölkerung hat oder in internationale Beziehungen eingebunden ist. Solange der Kern von Hamas um Yahya Sinwar sich nicht existenziell gefährdet sieht, nicht vor der Wahl steht, Märtyrertod oder Deal - solange gibt es überhaupt keine Veranlassung, auf irgendwelche Vorschläge einzugehen, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen.

tagesschau.de: In dieser Konsequenz wäre Israels fortgeführter Militäreinsatz das einzige Druckmittel - selbst wenn das noch viele Palästinenser und vermutlich auch Geiseln das Leben kostet.

Conrad: Es steht zu befürchten. Menschenleben zählen für Hamas nicht. Auch Hamas hat jetzt schon erhebliche Verluste erlitten. Die einzige Hoffnung scheint, sie noch weiter zu schwächen. Irgendwann kommt vielleicht der Kipppunkt, an dem die Organisation selbst bedroht ist - in ihrer politischen und terroristischen Wirkmacht wohlgemerkt. Die Ideologie werden Sie über Generationen nicht tot bekommen.

tagesschau.de: Sie haben mit diesem Kalkül selbst Erfahrungen gemacht, als Sie von 2009 bis 2011 um die Befreiung des israelischen Soldaten Gilad Shalit verhandelt haben.

Conrad: Wir haben der Hamas damals zusätzlich zum eigentlichen Deal allerlei Dinge angeboten, die gut für die Zivilbevölkerung gewesen wären. Das hat die, pardon, einen Scheißdreck interessiert. Die wollten nur ihre Helden zurück: 1000 Palästinenser aus den Gefängnissen. Es ging um den Prestigeerfolg. Um die Machtdemonstration und Demütigung Israels.

Benjamin Netanyahu

Israels Premier Netanyahu: Kritiker werfen ihm vor, einen Deal zu torpedieren.

"Dann gibt es kein Halten mehr"

tagesschau.de: Auch damals war in Israel Benjamin Netanyahu an der Macht.

Conrad: Netanyahu hat sich damals mit dem Schicksal des jungen Shalit politisch erpressen lassen. Es gab derzeit im Nachgang heftige Diskussionen, ob man sich auf einen solchen Deal mit Terroristen einlassen darf. Ich vermute, dass diese Erfahrung Netanyahu bis heute prägt.

tagesschau.de: Netanyahu wird heute vorgeworfen, auch aus persönlichen Motiven einen Deal zu torpedieren. Sie kennen ihn aus Ihrer Arbeit. Wie schätzen Sie ihn ein?

Conrad: Er mag neben den politischen auch von persönlichen Interessen geleitet sein. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass hinter dem sicherheitspolitischen Ziel - der Zerstörung der Bedrohung Hamas - die meisten Israelis wohl noch immer stehen. Man streitet nur über den Weg dahin. Macht man jetzt taktische Konzessionen für die Geiseln und kämpft dann weiter? Netanyahu scheint zu befürchten, dass er manche Zugeständnisse nicht mehr einholen kann. Gleichzeitig ist auch Hamas klar: Wenn die Geiseln frei sind, gibt es für die Israelis kein Halten mehr.

tagesschau.de: Wie soll dann ein Abkommen zustande kommen?

Conrad: Jedenfalls erst dann, wenn der Deal heißt: Exitstrategie gegen Geiseln. Heute sagt Hamas, sie wollen in Gaza bleiben und wiedererstarken. Solange sie den Eindruck haben, das erreichen zu können, gibt es keinen Grund, Zugeständnisse zu machen. Vor allem nicht bei Israels Militärpräsenz und der Kontrolle der Grenzübergänge Richtung Ägypten. Tunnel können sie neue bauen, andere Kontrollmechanismen durch Erpressung umgehen. Hamas dürfte aktuell zwar als Streitmacht ziemlich am Boden sein. Das macht aber nichts, solange sie in der Lage sind, ihre Macht als Miliz in Gaza wieder Stück für Stück aufzubauen. Die Ressourcen dafür dürften längst nicht am Ende sein.

"Ich wüsste nicht, womit man Hamas locken könnte"

tagesschau.de: Die USA, Ägypten und Katar bemühen sich seit Monaten als Vermittler in den Verhandlungen. Welche Druckmittel haben sie überhaupt?

Conrad: Kaum welche. Selbst wenn Katar Hamas finanzielle Zuwendungen entzöge, würden sie vermutlich sagen: so what - was wir zum Kämpfen brauchen, kriegen wir aus Teheran. Die Vermittler können eigentlich nur einen Deal mit den Israelis machen.

tagesschau.de: Wie könnte der aussehen?

Conrad: Für Rafah und den Philadelphi-Korridor braucht es eine weiche Lösung: eine Kontrolle, von der Hamas sich verspricht, dass sie sie unterlaufen und dementsprechend zustimmen kann. Aktuell wird ja der Einsatz von UN-Truppen spekuliert - eine nette Idee, aber ob es dafür im Sicherheitsrat ein Mandat gäbe? Der Netzarim-Korridor müsste abgeschafft werden. Dann hätte Hamas, was sie wollen, um sich wieder zu konsolidieren - und einen enormen Prestigegewinn für sich zu verbuchen. Man würde sich ja gegen den übermächtigen Feind durchgesetzt haben.

tagesschau.de: Deutschland hat sich bislang vor allem in Appellen geübt. Könnte es mehr tun?

Conrad: Ich wüsste nicht, womit man Hamas locken könnte. Und auch bei den Israelis halte ich die Möglichkeiten für sehr begrenzt. Früher hatte Deutschland über partikuläre Interessen mit Iran die Möglichkeit, auf Hisbollah und theoretisch auch Hamas Einfluss zu nehmen. Heute ist von diesen Beziehungen wohl zu wenig übrig, als dass ich da Spielraum sähe. Die iranischen Revolutionswächter sind ja selbst heißer Kandidat für die Terrorliste.

Karte Israel, Gazastreifen, Rafah, Philadelphi-Korridor und Netzarim-Korridor

"Das furchtbare Ergebnis haben wir am 7. Oktober gesehen"

tagesschau.de: Israel wird die Tötung des Hamas-Auslandschefs Ismail Hanija vor wenigen Wochen in Teheran zugeschrieben. Hat das die Bemühungen um ein Abkommen zurückgeworfen?

Conrad: Das war natürlich eine Provokation. Sie ändert aber nichts an den Interessenlagen.

tagesschau.de: Nachfolger Yahya Sinwar ist selbst bei einem Geiseldeal aus dem israelischen Gefängnis freigekommen, mit mehr als 1000 weiteren Palästinensern. Wie hat ihn das beeinflusst?

Conrad: Er kehrte als verdienstvoller Kämpfer nach Gaza zurück und hat seine Macht weiter ausgebaut. Der Deal hatte ihm und allen bei der Hamas gezeigt, wie erpressbar Israel ist, wenn es um die eigenen Leute geht. Sie haben danach mehrfach versucht, noch mehr Soldaten in ihre Gewalt zu bekommen. Vor allem durch gegrabene Tunnel gab es zahlreiche Versuche. Weil die alle scheiterten, erwuchs wohl der Plan, die Israelis oberirdisch zu überraschen. Das furchtbare Ergebnis haben wir am 7. Oktober gesehen.

"Emotionen und Weltbilder halten Sie da draußen"

tagesschau.de: Sie haben damals diesen Deal um die Freilassung des Soldaten Gilad Shalit verhandelt. Wie lief das ab?

Conrad: Netanyahu wandte sich im Sommer 2009 an die Bundesregierung, um mich als Vermittler zu gewinnen. Der Bundesnachrichtendienst hat mich dann für diese Operation abgestellt. Das war im Grunde Handwerkszeug.

Yahya Sinwar

Yahya Sinwar: Der neue Hamas-Chef kam einst selbst bei einem Geiseldeal aus dem Gefängnis frei.

tagesschau.de: Wie muss man sich das vorstellen?

Conrad: Viel einfacher als heute. Ich bin schlicht von Tel Aviv nach Gaza gefahren. Dort saß ich dann mit den Hamas-Chefs beim Tee am Küchentisch. Im Prinzip waren das Geschäftsgespräche. Emotionen und Weltbilder halten Sie da draußen.

tagesschau.de: Und inhaltlich?

Conrad: Sie stellen erstmal den Verhandlungsstand fest. Dann wollten wir ein Lebenszeichen der Geisel. Schließlich ging es in die Sachverhandlungen - vor allem die Namen derer, die Hamas entlassen sehen wollte: sogenannte "high quality prisoners", die Israel nicht freigeben wollte, es waren ja Mörder und andere gefährliche Leute darunter. Das ging hin und her, bis wir eine Liste hatten. Für die hat Israel aber nochmal die Konditionen verschärft - etwa, in welches Exil die Leute sollten, um ihren Einfluss zu beschränken. Weihnachten 2009 hat Hamas das wiederum abgelehnt. Also ein bisschen wie heute: Die einen ändern, die anderen sagen nein - und dann ist erst mal Monate Funkstille.

tagesschau.de: Wie ging es dann weiter?

Conrad: Im Herbst 2010 gab es die nächste Runde und noch eine weitere. Immer neue Modifikationen. Hamas bestand aber von Anfang an auf bestimmten Namen, ohne die es einen Deal nicht geben sollte. Man hätte das aus meiner Sicht alles früher haben können. Erst im Sommer 2011 machte Israel dann nach dem Zusammenbruch der Verhandlungen noch einmal Zugeständnisse, die es zuvor konsequent verweigert hatte. Und dann hat es geklappt.

Der freigelassene israelische Soldat Shalit verlässt im Oktober 2011 einen Armeehubschrauber, der ihn nach Hause zurückgebracht hatte.

Gilad Shalit: Fünf Jahre war der israelische Soldat in der Gewalt der Hamas.

"Aktuell hat Hamas es in der Hand"

tagesschau.de: Sie sagten schon, damals ging es um einen Soldaten. Die Situation erschien deutlich weniger komplex als heute. Trotzdem dauerte es fünf Jahre, bis man übereinkam…

Conrad: Fragen Sie mich bitte nicht nach einer zeitlichen Perspektive. Es kann an diesem Wochenende vorbei sein, oder wir sprechen uns in ein paar Jahren wieder. Beides halte ich für gleich unwahrscheinlich.

tagesschau.de: Das Drängen der internationalen Gemeinschaft, der israelischen Öffentlichkeit auf einen schnellen Abschluss halten Sie für nutzlos?

Conrad: Wir alle wollen, dass das Sterben aufhört. Das ist aber so, als würden sie gegen den Automaten treten und hoffen, dass der Kaffee schneller rauskommt. Sie müssen die Realitäten sehen. Und die lauten, dass es sich hier um einen eiskalten Machtkonflikt zwischen Hamas und Israel handelt. Dazwischen liegen die menschlichen Schicksale, der Geiseln und der vielen in Gaza, die zu Schaden kommen, ohne etwas dafür zu können. Das ist tragisch, aber so ist es. Aktuell hat Hamas es in der Hand.

Das Gespräch führte Anne Armbrecht, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 25. August 2024 um 19:15 Uhr.