Vertrag vorgestellt Was ist die Brexit-Einigung wert?
Der Brexit-Vertrag sorgt in London und Brüssel für Erleichterung. Die EU wähnt sich "fast am Ziel". Doch im britischen Unterhaus könnte das 585-Seiten-Papier noch scheitern.
Am Abend kam auch von der EU-Kommission grünes Licht. Nicht einmal eine Stunde nach Theresa Mays kurzem aber erlösendem Auftritt in 10 Downing Street trat in Brüssel EU-Diplomat Michel Barnier vor die Presse. Auch er verkündete einen Durchbruch bei den Brexit-Gesprächen. In seiner Hand hielt er die stattliche Frucht von 17 Monaten intensiver und teilweise nervenaufreibender Verhandlungsarbeit: den 585 Seiten dicken Entwurf des Trennungsvertrags.
Barnier: "Entscheidenden Fortschritt"
"Soeben haben wir, zusammen mit der britischen Regierung, den Text für ein vollständiges Abkommen über den geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU veröffentlicht", stellte Barnier befriedigt und sicher auch ein wenig erschöpft fest.
Dieses Dokument - alles in allem 185 Artikel, drei Protokolle und mehrere Anhänge - bilde eine "wichtige Etappe" auf dem Weg zu einem erfolgreichen Abschluss. Für den Franzosen Grund genug, den erhofften "entscheidenden Fortschritt" zu konstatieren.
Freizügigkeit bleibt
Dies sieht im Übrigen auch Kommissionschef Jean-Claude Juncker so. Er schrieb am Abend in einem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk, die Brexit-Verhandlungen seien "fast am Ziel". Seine Behörde empfehle den EU-Staaten, die Verhandlungen abzuschließen.
Nach den Worten Barniers bringt die nun auf technischer Ebene erzielte Einigung die notwendige Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Vor allem für jene Menschen, die auf dem jeweils anderen Territorium wohnen und arbeiten. Insgesamt rund drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien und rund eine Million Briten auf dem Kontinent. Für sie soll sich auch nach dem Brexit nichts Wesentliches ändern.
Sie könnten wie bisher, im jeweiligen Aufenthaltsland leben, um zu studieren, zu arbeiten, dort eine Wohnung zu suchen oder auch ihre Familien nachkommen zu lassen.
Ein zentraler Punkt der überaus schwierigen und langwierigen Verhandlungen, den die EU für sich verbuchen kann. Ebenso wie die Klärung der finanziellen Verpflichtungen Londons gegenüber der EU. Schätzungsweise 45 Milliarden Euro wird Großbritannien bis zum endgültigen Austritt noch nach Brüssel überweisen.
Nordirland-Frage durch "Back-stop" gelöst
Und der Vertrag enthält noch eine weitere Regelung, den beide Seiten von Anfang an als vorrangig bezeichnet hatten: das Vermeiden einer harten Grenze auf der irischen Insel.
Laut Chefunterhändler Barnier wird dies durch den sogenannten "Back-stop" erreicht, jene Auffanglösung, die bis zuletzt zwischen britischer Regierung und EU-Kommission sehr umstritten war. Demnach wäre Großbritannien, gemeinsam mit Nordirland, bis auf weiteres in einer Zollunion mit der EU verbunden.
Nordirland bliebe sogar de facto im Binnenmarkt. Schlagbäume und Zollkontrollen, die den mühsam errungenen Frieden in der Region gefährden würden, könnten so vermieden werden. Freier Personen- und Warenverkehr zwischen Nord und Süd wäre auch nach dem Brexit relativ reibungslos möglich. Und die verfassungsmäßige Einheit zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich bliebe gewahrt.
Neue Übergangsfrist
Doch Barnier betont: Diese Rückversicherung greife nur, wenn sich in den bevorstehenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen keine bessere Regelung finden lasse. Um die zu suchen, lässt der Scheidungsvertrag den Verhandlungsteams eine knapp zweijährige Übergangsfrist, die mit dem Brexit-Datum, 29. März 2019, beginnen und im Dezember 2020 enden würde. In dieser Phase, die man notfalls einvernehmlich verlängern könnte, müssten die Briten freilich weiter EU-Recht befolgen, ohne mitzubestimmen. Eine bittere Pille, zumal für hartgesottene Brexit-Fans.
Noch allerdings, das gab Barnier am Ende seiner rund einstündigen Ausführungen zu bedenken, hätten beide Seiten "sehr viel Arbeit" vor sich. Unsicher ist vor allem, ob der Brexit-Deal die Abstimmung im Londoner Unterhaus überlebt.
EU-Sondergipfel am 25. November?
Nächste Etappe auf dem Weg zu einem geordneten Austritt ist nun voraussichtlich ein Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs, über den seit Wochen spekuliert wird und auf dem der Trennungsvertrag und eine erheblich kürzere politische Absichtserklärung über die künftigen Beziehungen formell verabschiedet werden sollen.
EU-Diplomaten zufolge könnte das Treffen am 25. November stattfinden. Einberufen muss es EU-Ratspräsident Tusk, der sich schon am frühen Vormittag mit Chefunterhändler Barnier beraten will. In Brüssel wird erwartet, dass beide den Termin anschließend verkünden werden.