Palästinensische Botschafterin Daibes "Das Kernproblem bleibt die Besatzung"
"Das ist kein Krieg gegen die Hamas, sondern gegen 1,8 Millionen Menschen in Gaza", sagt die palästinensische Botschafterin in Deutschland, Khouloud Daibes. Das Kernproblem sei die Besatzung betont sie gegenüber tagesschau.de und fordert eine politische Lösung.
tagesschau.de: Wie ist die Lage im Gazastreifen?
Khouloud Daibes: Die Situation hat sich nach der Bodenoffensive weiter verschärft, die Zahl der Opfer steigt dramatisch. Es gibt bislang mehr als 600 Tote. Wir haben mehr als 3700 Verletzte. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft, sodass viele Verletzte keine Chancen haben dürften. Ganze Familien wurden ausgelöscht, mehr als 2700 Häuser zerstört - darunter auch Seniorenheime und Krankenhäuser.
tagesschau.de: Was funktioniert denn eigentlich noch?
Daibes: Gaza war bereits vor diesem Angriff unter Belagerung. Es hat an allem gefehlt. Es gibt mehr als 900.000 Menschen, die ohne Trinkwasser sind. Die Menschen wissen jetzt nicht mehr, wohin sie fliehen sollen. Sie suchen beispielsweise in Schulen Zuflucht. Es gibt keine Schutzräume und Bunker. Die Menschen werden ihrem Schicksal überlassen.
tagesschau.de: Israel betont stets, Ziel der Angriffe seien Hamas-Kämpfer, die Zivilisten als lebende Schutzschilde missbrauchen. Wie bewerten Sie das?
Daibes: Die Realität ist, dass Zivilisten die Opfer sind. Es kann nicht angehen, dass sich Hamas-Kämpfer oder Raketen-Basen unter jedem Haus befinden. Was sagen die Israelis, wenn Kinder am Strand bombardiert werden? Wenn Behinderteneinrichtungen angegriffen werden? Ich halte diese Behauptung für eine Ablenkung und für eine moralische Entlastung der israelischen Armee, die gegen Zivilisten vorgeht. Dabei ist Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, für die Sicherheit der Zivilisten zu sorgen.
tagesschau.de: Was meinen Sie, warum die israelische Regierung nun eine Bodenoffensive angeordnet hat?
Daibes: Es handelt sich um eine Fortsetzung der israelischen Politik. Es ist eindeutig, dass Israel die Einheit der palästinensischen Regierung torpedieren will. Und der Krieg ist auch ein Ergebnis davon, dass erneut eine Nahost-Verhandlungsrunde gescheitert ist. Es ist ein Ablenkungsmanöver der Israelis, um diesen Konflikt nicht durch einen politischen Prozess lösen zu müssen.
tagesschau.de: Wie funktioniert derzeit die Einheitsregierung, auf die sich Hamas und Fatah geeinigt haben?
Daibes: Die Hamas ist ein Teil unserer Gesellschaft, sie muss in den politischen Prozess integriert werden. Das war das Hauptziel unserer Konsensregierung. Dieser Prozess wurde bewusst und geplant von Israel gestoppt. Die Einheit der Bevölkerung ist wichtig, damit wir eine gemeinsame Strategie entwickeln, um die Besatzung zu beenden. Wir setzen dabei auf Diplomatie und Politik sowie auf das internationale Recht.
tagesschau.de: Immer wieder wurden Wahlen in den Palästinensergebieten geplant. Im Gazastreifen hat es seit 2006 keine Abstimmung mehr gegeben. Wann soll es wieder Wahlen geben?
Daibes: Der Plan war, innerhalb von sechs Monaten nach der Ernennung der Einheitsregierung Wahlen abzuhalten. Doch nun sind wir überwältigt von der derzeitigen Situation, so dass wir nicht sagen können, wann Wahlen stattfinden.
"Krieg gegen alle Palästinenser"
tagesschau.de: Welchen Anteil haben denn Hamas und andere Gruppen mit ihren Entführungen und wochenlangen Raketenangriffen an der Konfrontation?
Daibes: Dieser Krieg wird nicht gegen Hamas geführt, sondern gegen 1,8 Millionen Menschen in Gaza. Diese Menschen leben ohnehin bereits unter Belagerung. Der Krieg wird gegen alle Palästinenser geführt. Es betrifft alle elf Millionen Palästinenser - ob in Gaza, Ostjerusalem, dem Westjordanland, in Israel oder anderswo auf der Welt. Wir sehen: Die Vertreibung nimmt kein Ende, Zivilisten und Kinder sterben. All das ist zurückzuführen auf das Kernproblem: die Besatzung.
tagesschau.de: Wird der militante Kurs der Hamas denn auch kritisiert in der Bevölkerung?
Daibes: Ich vertrete hier mein Volk, aber auch die PLO, die seit Jahren auf Verhandlungen und Diplomatie setzt. Wir versuchen über das internationale Recht die Situation zu verbessern. Leider hat Israel das nicht honoriert. Und auch die Weltgemeinschaft ist nicht in der Lage, eine politische Lösung durchzusetzen. Das Problem betrifft aber nicht nur Hamas, sondern auch die Extremisten in Israel, die jede politische Lösung unmöglich machen. Alle unsere politischen Bemühungen haben zu keinem Ergebnis geführt - und deswegen wird jetzt versucht, mit anderen Mitteln Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. Die Mehrheit der Palästinenser will einen friedlichen Widerstand. Die internationale Gemeinschaft muss vermitteln, damit es am Ende eine Zwei-Staaten-Lösung gibt.
tagesschau.de: Glauben Sie, dass in Israel eine Mehrheit den Frieden mit den Palästinensern will?
Daibes: Ich hoffe. Und ich appelliere an die israelische Gesellschaft, dass sie ihre Stimme für den Frieden erhebt. Denn das ist auch eine gefährliche Entwicklung für Israel. Denn Frieden kann gut für beide sein. Der derzeitige Kurs könnte dazu führen, dass sich Israel weiter isoliert.
"Wochenlange Entwicklung"
tagesschau.de: Der ehemalige israelische Botschafter Primor sagt, Israel wolle derzeit vor allem die Tunnelanlagen der Hamas zerstören, um die eigene Bevölkerung vor Terrorangriffen zu schützen. Wie bewerten Sie das?
Daibes: Bis zur Bodenoffensive hat Israel keinen Schaden erlitten verglichen mit der palästinensischen Seite. Es gab Zeiten, als die Hamas sich an den Waffenstillstand hielt und bemüht war, dass keine Raketen auf Israel abgeschossen werden. Israel hat auch indirekt mit Hamas verhandelt. Ich meine, man muss die Ereignisse im Kontext sehen. Die Entwicklung hat bereits vor Wochen angefangen, als Kinder und Jugendliche im Westjordanland kaltblütig ermordet wurden. Die Entführung der Siedler war dann nur ein Vorwand für Razzien im Westjordanland. Der Krieg hat nicht mit dem Angriff auf Gaza angefangen.
tagesschau.de: Sie beklagen, dass es im Gazastreifen keine Bunker für die Menschen gibt. Es gibt viele Raketen, Waffen und Tunnelsysteme - warum aber keine Schutzräume für die Bevölkerung?
Daibes: Die Situation in Gaza resultiert aus den fehlenden Möglichkeiten dort. Die vergangenen sieben Jahre konnten wir als palästinensische Führung Gaza nicht wieder aufbauen. Es war unter Belagerung. Ich will nichts rechtfertigen, aber die Raketen aus dem Gazastreifen sind sehr primitiv gebaut, hausgemacht. Es gab bisher kaum Verletzte in Israel. Die Wirkung der Raketen darf nicht überschätzt werden.
tagesschau.de: Sie sehen die Besatzung als das Kernproblem an. Aber eine klare Distanzierung von Raketenangriffen oder Kritik an den Zuständen in Gaza, wo Tunnel gebaut werden aber keine Schutzräume, kann ich kaum heraushören.
Daibes: Doch. Wir sagen ja immer sehr deutlich, dass wir gegen das Töten von Zivilisten sind. Wir setzen uns für politische Verhandlungen ein. Wir glauben, dass Widerstand gegen die Besatzung ein legitimes Recht ist - und wir haben uns für den friedlichen Widerstand entschieden. Die derzeitige Situation ist ein Ergebnis daraus, dass alle politischen Bemühungen gescheitert sind.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de