Hilfen für die Ukraine "Die Europäische Union muss Wort halten"
Der EU-Gipfel in Brüssel ist für die Ukraine von entscheidender Bedeutung. Es geht um mehr als den formalen Beginn von Beitrittsgesprächen. Denn das Land befindet sich in einer prekären Lage.
Es ist eine Woche von entscheidender Bedeutung für die Menschen in der Ukraine. Angekommen auf dem Boden politischer Realitäten ist das angegriffene Land zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen in Washington und Brüssel geworden.
Die Ukraine müsse selbst über ihre Zukunft entscheiden, betonten ihre westlichen Partner seit Beginn des russischen Angriffskriegs immer wieder öffentlich. Aber nun werden wegweisende Entscheidungen über die Zukunft des Landes eben doch in Washington und Brüssel getroffen.
Diplomatischer Kraftakt der ukrainischen Führung
Um die politischen Gegebenheiten doch noch zu ihren Gunsten zu beeinflussen, vollzieht die ukrainische Führung in diesen Tagen einen Kraftakt. Außenminister Dmytro Kuleba sprach im ukrainischen Fernsehen von einer diplomatischen Intensität, wie es sie seit Beginn des russischen Angriffskrieges nicht mehr gegeben habe.
Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU geht es nicht nur um den formalen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, sondern auch um 50 Milliarden Euro Makrofinanzhilfen für die Ukraine in den kommenden vier Jahren.
Beides droht Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban zu blockieren. Und so rechnet der ukrainische Außenminister Kuleba mit einem schwierigen Gipfel: "Die Verhandlungen werden bis zur letzten Minute andauern, und wir werden auf allen Ebenen bis zur letzten Minute arbeiten."
Ukraine befindet sich prekärer Lage
Schon am Montag fand Kuleba scharfe Worte in Brüssel. Die Ukraine habe alle von der EU geforderten Reformen umgesetzt, sagte er. "Die Europäische Union muss nun beweisen, dass sie ihr Wort halten und für Einigkeit sorgen kann."
Früher oder später werde die Ukraine Mitglied in der Europäischen Union, gab sich der Außenminister zuversichtlich. Es sei nur eine Frage der Zeit und des Preises. "Der größte Preis wird vom ukrainischen Volk gezahlt", fuhr Kuleba fort. "Wir sollten nicht einen noch höheren Preis für die Fehler zahlen, die Sie hier in Brüssel oder in einzelnen europäischen Hauptstädten machen könnten."
Mit dem Rücken zur Wand
Kulebas eindringliche Worte zeigen, in welch prekärer Lage sich die Ukraine aktuell befindet. An der mehr als 1.200 Kilometer langen Frontlinie steht die ukrainische Armee mit dem Rücken zur Wand. Nach einem ernüchternden Jahr mit einer größtenteils gescheiterten Offensive und Tausenden Toten übernehmen die russischen Truppen vor allem im Osten nun wieder die Initiative.
Auf ukrainischer Seite ist die Stimmung zunehmend gedrückt. Viele Soldatinnen und Soldaten befinden sich seit fast zwei Jahren pausenlos im Einsatz. Sie klagen über Müdigkeit, ihre Angehörigen lassen bei Protesten gegen eine ineffektive Einberufungspolitik der ukrainischen Führung ihrem Ärger freien Lauf.
Neu zugesagte Hilfen erreichen Tiefstand
In die Erschöpfung der ukrainischen Bevölkerung mischt sich nun die Sorge vor ausbleibenden militärischen und finanziellen Hilfen der westlichen Partnerländer. Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft geben zusätzlich Grund zur Beunruhigung. Demnach habe die neu zugesagte Hilfe zwischen August und Oktober 2023 einen Tiefstand erreicht und sei im Vergleich zum Vorjahr um fast 90 Prozent gesunken.
Auch in diesem Kontext ist die Entscheidung des Europäischen Rates über den Beginn von Beitrittsverhandlungen wichtig für die Ukraine. Sie werde "erhebliche Auswirkungen auf die Motivation der ukrainischen Gesellschaft und der Armee haben", schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Kurznachrichtendienst X, ehemals Twitter.
Wichtige weitere Finanzhilfen
Doch auch für das Ansehen der EU in der Ukraine könnte eine negative Entscheidung verheerende Folgen haben, argumentieren Analysten des European Council on Foreign Relations. Die EU, so heißt es, laufe Gefahr, genau diejenigen in der ukrainischen Gesellschaft zu entfremden, die die EU eigentlich habe unterstützen wollen. "Ein solches Szenario zu vermeiden, liegt eindeutig im europäischen Interesse", schreiben die Experten.
Doch neben starken Symbolen und einer dringend benötigten Stärkung der Moral braucht die Ukraine vor allem weitere Finanzhilfen. Im November verabschiedete das ukrainische Parlament seinen Staatshaushalt für das kommende Jahr. Der Bedarf an externer Unterstützung für Ausgaben außerhalb des Sicherheits- und Verteidigungssektor belaufe sich demnach auf 41 Milliarden Dollar.
Auf dem Spiel steht auch das Vertrauen in die EU
Nach Angaben des ukrainischen Finanzministeriums decken ausländische Finanzhilfen einen Großteil des ukrainischen Staatshaushaltes. Die EU war in diesem Jahr mit Abstand der größte Geldgeber mit mehr als 17,8 Milliarden Dollar.
Sollten westliche Gelder ausbleiben, drohe ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, warnt der ukrainische Finanzminister Serhij Martschenko gegenüber dem Onlinemedium Politico.
Nur mit westlichen Geldern ist die Ukraine in der Lage, ihre Einnahmen in die Verteidigung des Landes zu stecken, ohne gleichzeitig Beamtengehälter, Renten oder andere staatliche soziale Abgaben kürzen zu müssen.
Es geht also bei der Entscheidung in Brüssel um weit mehr als einen symbolischen Akt. Auf dem Spiel stehen einerseits die Verteidigungsfähigkeit und das staatliche Überleben der Ukraine.
Und andererseits das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer in die Europäischen Union.