Neue EU-Kommission Die Baustellen des Teams von der Leyen
Die Wirtschaft wieder in Gang bringen, Europa gegen Angriffe von außen und innen sicherer machen: Der Plan der neuen EU-Kommission klingt logisch - die Umsetzung wird aber komplex.
Auf den ersten Blick scheinen die Herausforderungen zwar immens, aber wenigstens klar definierbar - mit drei zentralen Aufgaben, die sich durch die fülligen Agenden der neuen EU-Kommission wie rote Fäden ziehen: Die Wirtschaft soll fit gemacht werden im Wettstreit mit einer Konkurrenz, die nicht schläft.
Europa soll sicherer werden - im militärischen und zivilen Bereich. Gleichzeitig sollen europäische Freiheiten verteidigt werden, die auch im Inneren von Erosion bedroht sind.
Doch der Teufel liegt im Detail. Die neue EU-Kommission setzt auf ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl als Bedingung für die eigentliche Herkulesaufgabe: Die EU soll vom schwerfälligen Tanker zum flexiblen Schlachtschiff mit schneller Reaktionsfähigkeit umgebaut werden.
Die mittelfristige Finanzplanung - die in diesem Fall alles andere ist als nur trockene Buchhaltung - ist der Hebel für den Umbau der EU. Einen Entwurf wird die EU-Kommission im kommenden Sommer vorlegen.
Estin Kallas mit schwieriger Aufgabe betraut
Größte EU-Baustelle: Die Sicherheit. Die ehemalige estnische Regierungschefin Kaja Kallas soll als neue EU-Außenbeauftragte unterschiedliche Positionen besser koordinieren, nachdem die EU im Nahostkonflikt nach Ansicht vieler Außenpolitiker nicht geglänzt hatte.
Die Ukraine soll weiter unterstützt werden - mehr als bisher, falls andere Geber (etwa die USA) ausfallen. Ihr politisches Gewicht als EU-Chefdiplomatin wird auch davon abhängen, ob die europäischen Staaten bald mehr als nur im Schnitt 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Das wiederum ist Sache des neuen Verteidigungskommissars.
Finnin Virkkunen soll gegen Desinformation vorgehen
Fast noch wichtiger dürfte aber die Rolle der Finnin Henna Virkkunen werden - als neue Exekutiv-Vizepräsidentin für Sicherheit, Demokratie und Werte. Sie soll gegen Desinformation vorgehen und Europa vor hybriden Cyberattacken und ähnlichen Gefahren für die kritische Infrastruktur schützen.
Nach ihrer Devise - "Im Cyberbereich sind wir nur so stark wie unser schwächstes Glied" - soll es eine einheitliche Gesetzgebung als Voraussetzung für schnelle Reaktionen geben.
Grundlage ist der sogenannte Niinistö-Bericht des ehemaligen finnischen Präsidenten und heutigen EU-Sonderberaters in Sachen militärischer und ziviler Vorsorge, der in diesem Bereich gravierende Lücken offenbart hatte.
Soll Europa vor Cyberattacken und Gefahren für die kritische Infrastruktur schützen: die Finnin Henna Virkkunen.
Spanierin kümmert sich um Wirtschaftspolitik
Die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribera Rodríguez soll den ökologischen Wandel mit der europäischen Wirtschaftspolitik versöhnen. Ihr Credo: Europa werde nicht in der Lage sein, Wohlstand dauerhaft zu gewährleisten, wenn der Kontinent abhängig von importierten fossilen Brennstoffen bleibe. Die EU-Kommission plant neue Initiativen für konkurrenzfähige Energiepreise.
Der Däne Dan Jörgensen (zuständig für Wohnungsbau und Energie) hatte bereits angekündigt, dass es jedenfalls für neue Kernkraftwerke kein EU-Geld geben soll. Hier gibt es noch viele offene Fragen.
Die zentralen ökonomischen Baustellen hatte der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, in einem 400 Seiten starken Bericht aufgezeigt: zu hohe Energiepreise in Europa, zu wenig Innovation, zu wenig Investitionen.
Unbequeme Wahrheiten sind in der neuen Kommission auf mehrere Schultern verteilt. Das ist Absicht - die EU-Kommission soll "interaktiv und vernetzt" arbeiten, so will es Ursula von der Leyen.
Wichtiger Posten für Macron-Vertrauten
Ob sich Europa wirtschaftlich gegen die USA, China und andere behaupten kann, bestimmt Industriekommissar Stéphane Séjourné mit. Der Vertraute Emmanuel Macrons wacht nicht nur über den schwächelnden Binnenmarkt, sondern auch über die Kommissare für Wirtschaft, Produktivität und Handel.
Der französische Politiker soll dafür sorgen, dass die Nachfrage nach europäischen Produkten nicht einbricht, falls die USA unter Trump aber auch China die Zollschrauben andrehen - oder Europa in einen Handelskrieg hineingezogen wird.
Die Zeit der großen, jahrzehntelang verhandelten Freihandelsabkommen ist vorbei. Das drohende Scheitern eines Vertrages mit den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten hat die neue EU-Kommission eines Besseren belehrt: In Zukunft soll die Handelspolitik "smarter" und flexibler gestaltet werden: "Die Welt verändert sich immer noch nicht unbedingt zu unserem Vorteil, also müssen wir uns anpassen", beschrieb Séjourné im Tonfall der Ernüchterung seine "Baustellen".
Ein europäischer Fonds für Wettbewerbsfähigkeit soll Investitionen in die richtige Richtung lenken und Schlüsseltechnologien stärken. Die überfällige "Bankenunion" soll dafür sorgen, dass innovative Start-ups mit viel Potenzial bei der Kapitalbeschaffung nicht schon an der nächsten Binnengrenze abstürzen.
Insgesamt soll der Standort Europa dadurch wieder attraktiver für Unternehmen werden, die mit einem Wegzug liebäugeln. Mehr aber noch für Zukunftsbranchen, die noch in den Kinderschuhen stecken und bisher in den USA leichter an Wagniskapital kommen.
Stéphane Séjourné soll dafür sorgen, dass sich die europäische Wirtschaft im globalen Wettbewerb behaupten kann.
Pole Serafin für die Finanzplanung zuständig
In wenigen Monaten dürfte der Kampf ums große Geld losgehen. Die EU-Kommission will unter der Ägide des Polen Piotr Serafin im nächsten Jahr die mittelfristige Finanzplanung präsentieren, die es politisch in sich hat, zumal Serafin diese mit Blick nicht nur auf Ungarn viel stärker als bisher mit der Rechtsstaatlichkeit verbinden will.
Der aktuelle Rahmen (2021 bis 2027) umfasst 1134,6 Milliarden Euro. In Zukunft soll es weniger Fonds und Ausgabenprogramme geben (derzeit 37, in der Vergangenheit 58), weniger Bürokratie, dafür mehr Flexibilität und Vereinfachung. Einige Felder sollen deutlich gestärkt werden: Grenzmanagement, Kontrolle und Bekämpfung der irregulären Migration, Sicherheit, Forschung.
Dabei könnte sich auch die bisherige Kohäsionspolitik verändern, in der bisher noch die Bedürfnisse der Regionen eine wichtige Rolle spielen. Zuständig hier: Der Italiener Raffaele Fitto aus den Reihen der "Brüder Italiens" und ein Vertrauter der italienischen Regierungschefin Georgia Meloni.
Fitto setzt auf neue Hilfen für heruntergekommene Städte: Mit einer EU-Agenda für Wohnungsbau, Digitalisierung und Migration. Die Migrationspolitik könnte noch einmal für Probleme in Brüssel sorgen, wenn die mühsam verankerten Gemeinsamkeiten keinen Bestand haben sollten. Der zuständige österreichische EU-Kommissar Magnus Brunner jedenfalls will hier kein Öl ins Feuer gießen.