Klage wegen Justizreform EU sieht Polens Rechtsstaat in Gefahr
Wegen der Zwangspensionierung zahlreicher oberster Richter verklagt die EU-Kommission Polen. Aus Furcht davor, dass die Justiz ihre Unabhängigkeit verlieren könnte, strebt sie sogar einstweilige Verfügungen an.
Der Schritt kam alles andere als überraschend. Schon seit fast drei Jahren liegt die EU-Kommission nun schon mit der polnischen Regierung wegen deren umstrittener Justizreformen über Kreuz. Alle Versuche, den Dauerstreit im Dialog und beiderseitigem Einvernehmen zu lösen, sind bis jetzt jedoch gescheitert. Nun verklagt die Kommission Polen vor den Europäischen Gerichtshof. Insbesondere das Gesetz über den Obersten Gerichtshof mit der Vorverlegung des Pensionsalters der höchsten Richter sei "unvereinbar mit EU-Recht, weil es den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz untergräbt", heißt es in der Begründung.
EU-Kommissions-Vize Frans Timmermans neigt nicht zu Übertreibungen. Er zeichnet inzwischen ein düsteres Bild vom Zustand der polnischen Justiz. Seit Beginn der Reformen habe die nationalkonservative PiS-Partei mehr als ein Dutzend Gesetze verabschiedet, die in der Summe eine "ernsthafte Gefahr" für die Unabhängigkeit der dritten Gewalt darstellten und damit für die Herrschaft des Rechts in Polen insgesamt. Weil die Warschauer Regierung aber in monatelangen Verhandlungen und nach mehreren förmlichen Ermahnungen auf keine ihrer Bedenken einging, sah sich die Kommission am Ende gezwungen, die Klage einzureichen. Aus Rücksicht auf den jüngsten EU-Gipfel in Salzburg mit einigen Tagen Verspätung.
Das neue Gesetz in Polen verstoße gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, so eine Sprecherin von EU-Kommissionschef Juncker.
Vorwurf: Prinzip der Gewaltenteilung infrage gestellt
"Die Europäische Kommission", sagte eine Sprecherin von Behördenchef Jean-Claude Juncker, "beharrt auf dem Standpunkt, dass das neue Gesetz über den polnischen Obersten Gerichtshof mit EU-Recht unvereinbar ist. Es verletzt den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, einschließlich der Unabsetzbarkeit von Richtern." Damit sei sowohl Artikel 19 Absatz 1 des EU-Vertrags berührt sowie Artikel 47 der Grundrechtecharta.
Auch unabhängige Experten kritisieren schon länger, dass die von der rechtspopulistischen Regierungspartei PiS durchgesetzten Reformen das Prinzip der Gewaltenteilung ernsthaft infrage stellten. Das polnische Justizwesen, beklagt etwa die für Grundrechtsfragen zuständige Venedigkommission des Europarats, befinde sich seit dem Umbau de facto unter Kontrolle der Regierung. Das ist ein Vorwurf, den man in Warschau vehement zurückweist. Schließlich seien die fraglichen Gesetze demokratisch einwandfrei zustande gekommen.
Missliebige Juristen in den Ruhestand schicken
Die konkrete Norm, deretwegen die EU-Kommission nun trotzdem zum EuGH in Luxemburg geht, ist seit April dieses Jahres in Kraft und bezieht sich auf das Rentenalter für oberste Richter. Mit dem angefochtenen Gesetz wurde deren Pensionsgrenze von 70 auf 65 Jahre abgesenkt. Dies allerdings in der erkennbaren Absicht, missliebige Juristen, wie etwa eine streitbare Gerichtspräsidentin, in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken.
Durch die umstrittene Neuregelung, so beklagt die EU-Kommission, stünden nicht weniger als 27 der 72 höchsten Richter in Polen vor der Zwangspensionierung. Zwar hätten sie formal das Recht auf Widerspruch, de facto aber gebe es keine objektiven Kriterien dafür, wer sein Amt letztlich behalten könne und wer nicht. In der Konsequenz drohe ein "irreparabler Schaden".
Um schnelle Entscheidung gebeten
Dass es den Hütern der Verträge ernst ist mit ihrem Anliegen, den Rechtsstaat in Polen möglichst schnell wiederherzustellen, machten sie durch zwei weitere Anträge deutlich. So wurde der EuGH gebeten, den Fall möglichst im Eilverfahren zu entscheiden. Das bedeutet: Zwischen Klage und Urteil würden nicht wie sonst üblich bis zu anderthalb Jahre vergehen.
Außerdem solle das Gericht die Vorschriften zum Pensionsalter per einstweiliger Verfügung aussetzen und so sicherstellen, dass die davon betroffenen Richterinnen und Richter ihr Amt weiter ausüben können. Neuberufungen würden für die Dauer des Verfahrens gestoppt.
Vieles spricht dafür, dass sich die EU-Kommission vor Gericht durchsetzt. Weniger klar erscheint jedoch, ob sich die polnische Regierung einem entsprechenden Urteil beugen würde. Schließlich wäre dies ein schwerer Rückschlag für ihre Glaubwürdigkeit. Die Alternative freilich bestünde in hohen Strafzahlungen und am Ende sogar in der Kürzung von Zuschüssen.