Ein Bild zeigt drei Soldaten mit Heiligenschein und dem "Z"-Zeichen, darunter ein Gedicht in russischer Sprache.
analyse

1.000 Tage nach dem Überfall Wie der Krieg Russlands Gesellschaft formt

Stand: 19.11.2024 05:22 Uhr

Vor 1.000 Tagen marschierte Russland auf breiter Front in die Ukraine ein. Der Krieg hat auch den Aggressor grundlegend verändert. Russland ist geprägt von allgegenwärtiger Propaganda, Angst und Denunziantentum.

"Du kannst dich verstecken oder nicht", steht auf dem Plakat unter einem furchteinflößenden Bild eines russischen Kampfhubschraubers. "Er findet dich. Er ist böse. Er ist unser Raubtier." Monatelang ist auf dem Alten Arbat, Moskaus bekanntester Fußgängerzone, eine Ausstellung mit Plakaten zu sehen, die man kaum anders beschreiben kann als kriegsverherrlichend.

Ein weiteres Plakat etwa zeigt einen schweren Panzer, ebenfalls frontal aufgenommen, es sieht aus, als rolle er auf einen zu. "Hörst du ihn? Den Lärm der unausweichlichen Vergeltung?" Menschen flanieren an den Aufstellern mit den Plakaten vorbei, nur selten bleibt jemand stehen und schaut genauer hin.

1.000 Tage der sogenannten speziellen Militäroperation. Der Krieg ist Alltag. Und falls jemand doch noch zweifeln sollte, ob das alles wirklich richtig ist, hängt auf dem Alten Arbat zur Sicherheit auch das Bild eines Soldaten mit ikonengleichem Heiligenschein.

Auf einem anderen Plakat steht: "Wenn Gott für uns ist - wer ist dann gegen uns?" Der Krieg ist heilig, so die Botschaft, zumindest unantastbar. Wer das nicht verstehen will, muss vorsichtig sein.

Eine Open-Air Ausstellung in Moskau

Monatelang ist in Moskaus bekanntester Fußgängerzone eine Ausstellung mit kriegsverherrlichenden Plakaten zu sehen.

Rückkehr des Denunziantentums

Den Krieg offen zu kritisieren - zu "diskreditieren", wie ein Gesetz es nennt, kann Jahre der Freiheit kosten. Der russische Oppositionelle Ilja Jaschin saß bis zu seiner Freilassung im Zuge des großen Gefangenenaustauschs im Sommer jahrelang ein, weil er auf seinem YouTube-Kanal über Butscha geredet hatte.

Andere, weniger Prominente, sitzen für ein "Like" bei Facebook. Oder sie sitzen, weil jemand behauptet, sie hätten sich kriegskritisch geäußert. So wie die Kinderärztin Nadjeschda Bujanowa. Sie ist 68, praktiziert seit 40 Jahren in Moskau, eine resolute, zupackend wirkende Frau mit grauem Kurzhaarschnitt.

Sie soll sich während eines Behandlungstermins negativ über den Krieg geäußert haben. Die Mutter eines kleinen Patienten, Witwe eines in der Ukraine gefallenen Soldaten, hatte es so bei der Polizei gemeldet. Bujanowa bestritt die Vorwürfe, Aussage stand gegen Aussage, Beweise gab es nicht. Eine Richterin verurteilte die Ärztin in der vergangenen Woche zu fünfeinhalb Jahren Haft im Straflager.

"Absurd ist das alles", sagte Bujanowa in ihrem Glaskäfig im Gerichtssaal. Dabei ist es mehr: Mit den strengen neuen Gesetzen kehrt, so scheint es, das Denunziantentum zurück.

Allgegenwärtige Kriegspropaganda

1.000 Tage Krieg, das bedeutet auch: 1.000 Tage Kriegspropaganda. Man kann ihr nicht ausweichen. Nicht in Wladiwostok oder Blagoweschtschensk im fernen Osten des Landes, nicht in den großen und kleinen Städten Sibiriens, nicht am Polarkreis.

Den Fernseher auszuschalten mit den nicht enden wollenden Erfolgsmeldungen von der Front - es sind immer nur Erfolgsmeldungen - oder mit den Talkshows, die eigentlich Brüllshows heißen müssten, so heftig wird gegen die Ukraine, auf die "Kriegstreiber in der EU" gegeifert - das nützt nichts.

Die Propaganda ist überall. In den Städten und Dörfern hängen große Fotos von Frontsoldaten, auf Schulfesten tanzen Kinder in Uniform, in Schaufenstern hängen bunte Plakate mit Werbung für den Kriegsdienst. Diese Werbung leuchtet auch auf jedem der tausenden Ticketautomaten in Moskaus Metrostationen, lockt mit umgerechnet 50.000 Euro Bezahlung allein im ersten Jahr des Dienstes an der Front. Wer hoch verschuldet ist, und das sind viele in Russland, mag da schnell unter Druck geraten.

Ein Soldatenfriedhof im Winter

Auf dem Friedhof der Stadt Syktyvkar ist ein neues Feld angelegt für die Männer der Region, die in der Ukraine gefallen sind.

Lange Reihen mit Soldatengräbern

Aber 1.000 Tage Krieg sind auch 1.000 Tage Leid. Auf Russlands Friedhöfen wachsen lange Reihen mit Soldatengräbern. In der Stadt Syktyvkar etwa, Hauptstadt der Region Komi im nördlichen Ural, ist ein ganzes neues Feld angelegt für die Männer der Region, die in Zinksärgen zurückkehren.

Die BBC, in Russland legal nicht mehr empfangbar, nannte schon im September eine Zahl von mehr als 70.000 russischen Soldaten, deren Identität und Tod man anhand von Einträgen in sozialen Netzwerken, Traueranzeigen oder Friedhofsunterlagen habe nachweisen können. Viele vermuten, dass die Anzahl weit höher liegt. Russlands Behörden nennen keine Verlustzahlen.

Niemand klagt laut, hohe Geldzahlungen für Hinterbliebene und posthum verteilte Orden sollen das Leid mindern - und ersticken möglichen Protest im Keim. Nach fast drei Jahren Krieg liegt eine Friedhofsruhe über dem ganzen Land.

Die Angst ist immer präsent

Mitleid mit den Opfern in der Ukraine, mit dem immer wieder beschworenen "Brudervolk" gibt es, zumindest öffentlich, kaum. Schwer zu sagen, ob es an der Angst liegt oder an der Gleichgültigkeit.

Neben Denkmälern für ukrainische Dichterinnen oder an Straßenschildern mit den Namen ukrainischer Schriftsteller tauchen nach besonders schweren Angriffen manchmal Blumen auf oder kleine handgeschriebene Zettel, auf denen "verzeiht uns" steht. Manchmal findet man blau-gelbe Schleifchen in den Zweigen eines Baums, einen kleinen Aufkleber am Laternenmast. Großes öffentliches Entsetzen aber bleibt aus.

Die Angst ist immer präsent in diesen 1.000 Tagen des Kriegs, der immer noch nicht Krieg genannt wird. Soziologen wissen, wie sehr Angst ihre Umfrageergebnisse verfälschen kann, stellen ihre Fragen deshalb geschickt so, dass das Antworten ungefährlich ist.

Breite Unterstützung für Putins Kurs

Das staatsunabhängige russische Lewada-Institut erhebt regelmäßig Daten zur Akzeptanz der Politik von Kremlchef Wladimir Putin. Bei aller Vorsicht in der Interpretation geht man auch bei Lewada davon aus, dass eine satte Mehrheit seinen Kurs unterstützt.

Beim staatsnahen Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften hat man da erst recht keine Zweifel: Die "Militäroperation", hieß es vergangene Woche bei der Vorstellung einer neuen Studie, habe die Gesellschaft konsolidiert. 78 Prozent in Russland stünden hinter dem Kurs, den Russland eingeschlagen habe. Tendenz steigend.

Die Befragten hätten "unbedingt mitmachen wollen" und sehr gern geantwortet. "Sie sehen es an den Zahlen", sagt der Institutsleiter Michail Gorschkow dann noch, "Russland hat sich endlich von den Knien erhoben." Ganz ähnlich ist das auch auf einem der Plakate auf dem Alten Arbat zu lesen: "Der russische Bär wacht gerade erst auf. Das ist erst der Anfang."

1.000 Tage Krieg haben auch Russland grundlegend verändert. Es kämpft nicht mehr nur in der Ukraine, sondern längst auch gegen den "Feind im eigenen Land": Wer Putins Politik kritisiert, gegen den Krieg ist, gar mit der Ukraine sympathisiert, hält den Mund. Oder ist längst weg: Russlands Opposition, die prominente und die stille, hat das Land verlassen, ist in der inneren Emigration - oder im Straflager.