Migranten am Grenzfluss Evros in Griechenland.

Urteil des EGMR Pushbacks in Griechenland - System statt Einzelfälle

Stand: 07.01.2025 17:07 Uhr

An den EU-Außengrenzen werden seit Jahren Flüchtlinge zurückgeschickt, ohne einen Asylantrag stellen zu können. Der EGMR stellt nun fest: Es gibt ein System illegaler Zurückweisungen durch die griechischen Behörden.

Von Max Bauer und Philip Raillon, ARD-Rechtsredaktion

Im Mai 2019 überquerte eine türkische Staatsbürgerin die Grenze nach Griechenland. Sie wollte in dem EU-Staat Asyl beantragen, da sie als Anhängerin der oppositionellen Gülen-Bewegung in der Türkei zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war.

Doch in Griechenland wurde sie festgenommen und noch am selben Tag zurück in die Türkei geschickt, mit einem Schlauchboot über den Grenzfluss Evros. Griechische Behörden taten dies also, ohne vorher zu prüfen, ob sie Anspruch auf Asyl haben könnten.

Erfolgreiche Klage gegen Griechenland

Das verstieß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, urteilte heute der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dabei sahen die Straßburger Richter genügend Hinweise für ein Pushback-System der griechischen Behörden, wie es NGOs und Medienberichte seit Jahren beschreiben. "So deutlich wurde das bislang vom EGMR noch nicht benannt", sagt Constantin Hruschka, Rechtswissenschaftler und Professor an der Evangelischen Hochschule Freiburg.

Von Pushbacks spricht man, wenn Flüchtende an Grenzen zurückgedrängt werden, ohne dass sie eine Chance haben, ihre Schutzbedürftigkeit individuell prüfen zu lassen. Griechenland bestreitet, dass es solche Pushbacks systematisch vornehme.

Entscheidend war im Fall der klagenden Türkin: Sie konnte belegen, dass sie tatsächlich nach Griechenland eingereist war und sich also auf griechischem Boden befand. Sie hatte nämlich morgens ihren Standort per WhatsApp an ihren Bruder verschickt.

Damit habe sie bewiesen, dass sie in Griechenland war. Den genauen Pushback-Vorgang musste sie deshalb nicht mehr nachweisen, sagt Asylrechtsexperte Hruschka. Griechenland habe nicht beweisen können, dass es in ihrem Fall keinen Pushback gab.

Gerichtshof spricht Schadensersatz zu

Außerdem kritisierten die Richterinnen und Richter, dass die türkische Klägerin von den Behörden für mehrere Stunden festgenommen wurde, nur um sie später wieder zurückzuschicken. Eine Festnahme, die nicht nur dem Erfassen der Daten dient, verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Festnahmen müssten außerdem gerichtlich angeordnet werden - auch das war in Griechenland nicht geschehen.

"Das lässt sich auch auf andere Staatsgrenzen, etwa innerhalb der EU, übertragen", sagt Hruschka. Der EGMR mache keinen Unterschied, ob die Zurückweisung in die Türkei oder etwa aus Deutschland nach Österreich erfolge. Denn es handele sich jeweils um Staaten, die sich der Europäischen Menschenrechtskonvention unterworfen haben.

Das Gericht sprach der Frau Schadensersatz in Höhe von 20.000 Euro zu, den sie nun von der griechischen Regierung bekommt.

Beweis in jedem Einzelfall nötig

In einem anderen Fall gab der EGMR dem Kläger heute hingegen nicht Recht. Einem jungen Mann aus Afghanistan gelang vor Gericht nicht der nötige Beweis. Er hatte behauptet, von der griechischen Insel Samos zurückgeschickt worden zu sein.

Allerdings konnte er nicht belegen, dass es tatsächlich er war, der im September 2020 erst auf der Insel Samos angekommen und dann von der griechischen Küstenwache in ein Boot gezwungen und zurückgeschickt worden war.

Das wäre aber nötig gewesen. Denn auch wenn es ein illegales System wie in Griechenland gibt, müssen Geflüchtete laut der Entscheidung des EGMR in jedem Einzelfall beweisen, dass sie auch selbst von einem Pushback betroffen waren.

Flüchtlingsorganisationen begrüßen Entscheidung

Die Menschenrechtsorganisation ECCHR begrüßt das Urteil zum Fall der Türkin zwar, kritisiert aber die hohen Beweisanforderungen für betroffene Geflüchtete.

Die deutsche Organisation Pro Asyl bewertet die heutigen Entscheidungen hingegen als "Paukenschlag". "Wir erleben eine Erosion der Menschenrechte an den Außengrenzen, illegale Pushbacks sind weit verbreitet", sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin bei Pro Asyl. Die Organisation fordert daher die EU auf, Maßnahmen gegen griechische Pushbacks zu ergreifen, die laut der Organisation weiterhin stattfinden.

In den beiden Verfahren beim EGMR wurde deutlich, dass die Pushbacks keine Einzelfälle sind. Die Nichtregierungsorganisation Mare Liberum, die sich 2023 aufgelöst hat, hat allein für das Jahr 2020 mehr als 10.000 Pushbacks an den EU-Außengrenzen gezählt.

Auch offizielle Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR weisen auf hunderte von Flüchtlingsboote hin, die jedes Jahr vor Europas Küsten abgefangen werden und umkehren müssen.

Pushbacks können zulässig sein

Schon in der Vergangenheit hatte der EGMR immer wieder Menschenrechtsverstöße durch illegale Pushbacks festgestellt. Es gab aber auch anderslautende Urteile. Der EGMR hielt 2020 und 2022 Pushbacks in bestimmten Fällen für zulässig.

In einem Fall hatten Geflüchtete versucht, die Grenzzäune zu überwinden, die die spanische Exklave Melilla in Nordafrika von Marokko trennen. Dort versuchen regelmäßig Menschen, spanischen Boden zu erreichen. Es gibt dabei immer wieder Tote und Verletzte. Zwei Männer aus Mali und der Elfenbeinküste hatten 2014 den Versuch gemacht, zusammen mit 70 bis 80 weiteren die Grenzanlagen zu überwinden.

Sie wurden jedoch von spanischen Polizisten direkt hinter den Zäunen festgenommen und zurück nach Marokko gebracht. Nach ihren Personalien und ihren Fluchtgründen wurden sie nicht gefragt. Obwohl es keine individuelle Überprüfung gegeben habe, war die Aktion aber keine Verletzung von Menschenrechten, so der EGMR 2020.

Denn: Die Kläger hätten zum Überqueren der Landesgrenze nach Spanien "bewusst ihre große Anzahl an Personen ausgenutzt und Gewalt angewendet und so eine störende, schwer kontrollierbare und die öffentliche Sicherheit gefährdende Situation geschaffen". Sie hätten also selbst schuldhaft gehandelt.

Ein wichtiges Urteil für Geflüchtete

Diese Fälle waren allerdings anders als die heute vom EGMR entschiedenen, betonte Jura-Professorin Anuscheh Farahat von der Universität Wien zur Verhandlung im Frühjahr 2024. In den alten Verfahren sei es um eine Situation gegangen, in der viele Menschen auf einmal eine Grenze überschritten und Gewalt angewendet hätten.

Wenn aber Flüchtende über das Meer oder einen Fluss kommen und ihr Schutzbegehren vortragen, sei die Rechtslage anders. Dann hätten sie ein Recht darauf, dass ihr Schutzbegehren in einem ordentlichen Verfahren geprüft werde, und zwar in jedem einzelnen Fall. Das bestätigte der EGMR mit seinen heutigen Urteilen.

Und er stellt grundsätzlich klar: Systematische Pushbacks wie die der griechischen Regierung verletzen europäische Menschenrechte.