Nach Flüchtlingsunglück Frontex-Ultimatum an Griechenland läuft aus
Knapp vier Wochen nach dem wohl größten Flüchtlingsunglück aller Zeiten im Mittelmeer fordert die EU-Grenzschutzagentur Informationen zu älteren Pushback-Fällen - die Frist dazu läuft heute aus. Könnte der Frontex-Einsatz enden?
Der Brief hat es in sich. Er ist adressiert an den Chef der Abteilung Grenzschutz bei der griechischen Polizei. Unterzeichnet ist er von Hans Leitjens, dem Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Er fordert Griechenland auf, bis heute "alle verfügbaren Informationen" zur Verfügung zu stellen. Dies sei "von größter Bedeutung", wiederholt Leitjens bei einer Befragung durch EU-Parlamentarier in Brüssel vergangenen Donnerstag.
Man warte auf mehr Informationen zu drei Vorkommnissen - auch um zu sehen, ob das irgendwelche Konsequenzen für die Zusammenarbeit mit Griechenland haben sollte, so der Frontex-Chef.
Moritz Pompl, ARD Rom, zzt. Athen, über Frontex-Drohung mit Abzug aus Griechenland nach Bootsunglück
Beteiligt sich Griechenland an Pushbacks?
Unter anderem geht es um einen besonders klar dokumentierten Pushback-Fall. Er wurde im April von einem österreichischen Aktivisten per Video aufgenommen.
Dabei wurden auf der griechischen Insel Lesbos Flüchtlinge in einem weißen Lieferwagen an den Strand gebracht und zu einem Boot der griechischen Küstenwache gefahren. Das Boot setzte die Migranten auf hoher See in einer Rettungsinsel aus. Später kam die türkische Küstenwache und brachte die Menschen zurück in die Türkei.
Solche Rückführungen verstoßen gegen EU-Recht und internationales Recht. Griechenlands Regierung hat eine Beteiligung immer wieder abgestritten. Auch in diesem Fall.
Frontex: Hatten Hilfe angeboten
Jetzt, nach dem schweren Unglück vor der griechischen Küste, bei dem ein Fischkutter mit mehreren Hundert Menschen an Bord unterging und das mit den Pushback-Fällen erstmal nichts zu tun hat, geht Frontex-Chef Leitjens auf Distanz zu Griechenland. Seine Behörde habe sich dazu verpflichtet, die Grenzen zu schützen. Aber auch die Sicherheit und das Wohlergehen derer zu sichern, die dort in Not geraten.
Das Vorgehen im Fall des gesunkenen Bootes beschreibt Leitjens so: Ein Frontex-Aufklärungsflugzeug habe den Kutter entdeckt und die griechischen Behörden informiert. Dann musste es umdrehen. Im Verlauf habe man zweimal frühzeitig Hilfe angeboten, in Form einer Aufklärungsdrohne. Aber man habe keine Antwort erhalten.
Später sei Frontex von den griechischen Behörden dann gebeten worden, die Drohne zu einem anderen Fall südlich von Kreta zu schicken. Dort seien etwa 50 Personen gerettet worden.
Widersprüchliche Angaben zur Rolle der Küstenwache
Die griechischen Behörden äußern sich weiter nicht dazu und verweisen auf die laufenden Ermittlungen. Unterdessen reißen die Vorwürfe nicht ab. Gerettete bleiben bei ihrer Darstellung, die griechische Küstenwache habe den Fischkutter mit einem Seil gezogen und so zum Kentern gebracht. Die Küstenwache bestreitet das.
Mehrere Medien haben zuletzt Einblick in die Gerichtsunterlagen erhalten und in das Logbuch des Bootes der Küstenwache. Demnach erhärtet sich der Verdacht, dass das Flüchtlingsboot durch die griechische Küstenwache zumindest vorübergehend gezogen worden sein könnte.
Gestern hat der griechische Privatsender Mega dagegen ein Video veröffentlicht, das die Küstenwache eher entlasten könnte. Es zeigt den Fischkutter, der ohne äußeren Einfluss stark von Seite zu Seite schwankt und fast kentert. Das Video ist noch nicht verifiziert. Es sei von der Küstenwache selbst aufgenommen worden.
Seegericht in Piräus mit Fall beauftragt
Welche Rolle die Küstenwache gespielt hat, soll jetzt das Seegericht in der Hafenstadt Piräus klären. Die Anwältin Maria Papamina vertritt Überlebende des Unglücks. Und sie kritisiert, dass nun das Seegericht und nicht mehr die Staatsanwaltschaft zuständig ist. Sie erinnert an ein anderes Schiffsunglück von 2014, das dort aufgearbeitet werden sollte.
Griechenland, so Papamina, sei letztlich vom Europäischen Gerichtshof verurteilt worden. Weil es nach dessen Ansicht die Menschen, die sich damals auf dem Schiff befanden, hätte retten können, es aber nicht getan habe. Und: weil nicht so ermittelt worden sei, wie es im Rahmen eines Strafverfahrens hätte geschehen müssen, so die Anwältin.
EU-Kommission will keine internationale Untersuchung
Die Forderung nach einer unabhängigen, internationalen Untersuchung wird auch von vielen EU-Parlamentariern gestellt. EU-Innenkommissarin Ylva Johannson weist das zurück. Man sei eben so organisiert, sagt Johannson vor EU-Parlamentariern.
Es liege in der Verantwortung eines jeden Mitgliedstaats, solche Dinge aufzuklären. Die Kommission selbst habe keine Befugnis, eine internationale Untersuchung anzustoßen. Und deshalb müsse man den nationalen Untersuchungen vertrauen.
Griechenlands neuer Migrationsminister Dimitris Kairidis von der konservativen Partei Nea Dimokratia hat indes kritisiert, dass der Frontex-Brief an Journalisten durchgestochen worden sei. Eine Antwort der griechischen Seite auf den Brief dürfte heute ganz im Geheimen erfolgen. Beide Seiten haben bereits durchblicken lassen, dass sie weiter zusammenarbeiten wollen.