EU-Debatte zu Seenotrettung Humanitäre Pflicht oder Pull-Faktor?
Staaten wie Italien oder Malta gehen häufig gegen private Seenotretter vor. Hilfsorganisationen sprechen von einem Rechtsbruch und fordern Hilfe von der EU. Doch in Brüssel kann man sich nicht einigen.
Im vergangenen Jahr hatte Rom strenge Regeln für den Einsatz der privaten Seenotretter erlassen. Denn diese seien ein Problem, das gelöst werden müsse, wie Italiens Außenminister Antonio Tajani das härtere Vorgehen bei einem Ministertreffen in Brüssel begründete. Seitdem wurden in über 20 Fällen zivile Rettungsschiffe durch die italienischen Behörden festgesetzt, erzählt Oliver Kulikowski, Sprecher der Hilfsorganisation Sea Watch.
"Zuletzt betraf das Schiffe der Organisationen Ärzte ohne Grenzen, Sea Eye, SOS Humanity und eben Sea Watch", so Kulikowski. "Und zugleich ist Italien dazu übergegangen, den Schiffen sehr weit entfernte Häfen zuzuweisen." Im vergangenen Jahr mussten die Rettungsschiffe deshalb 150.000 Kilometer unnötig zurücklegen.
Gleichzeitig ist zu beobachten, dass nicht nur die von der EU mitfinanzierte libysche Küstenwache die Konfrontation mit den Seenotrettern sucht, wie Emily O'Reilly aus ihrer Arbeit als Europäische Bürgerbeauftragte weiß: "Die EU-Menschenrechtsagentur hat mehrere Vorfälle in einigen Ländern registriert, bei denen NGO-Seenotretter bedroht oder zumindest in ihrer Arbeit behindert werden." Man spreche zwar vom Vorrang der Lebensrettung, sehe die Seenotrettung aber vor allem "als Pull-Faktor für Migranten", sagt O'Reilly.
Seenotretter werden in Nähe von Schleppern gerückt
Die zivilen Rettungsschiffe seien natürlich ein Faktor, der die illegale Migration zumindest antreibe, sagen die Kritiker. Ihrer Meinung nach halten die Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer nach überfüllten Booten Ausschau, auf denen die Menschen bereits auf die Seenotretter warten, damit die ihnen eine sichere Überfahrt garantieren.
Ein Vorwurf, der die Nichtregierungsorganisationen in die Nähe der Schlepper rückt. Denn während es eine internationale Verpflichtung ist, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, wäre es ein Rechtsverstoß, Migranten bei der illegalen Einreise in die EU zu helfen. Bisher aber konnte das in keinem Fall bewiesen werden, sagt Hans Leijtens, Direktor der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex.
"Zum sogenannten Pull-Faktor: Ich weiß, dass man darüber viel debattiert", so Leijtens. Einen Beweis, dass Seenotrettung ein solcher Faktor ist, habe er nie gesehen. "Was nicht heißt, dass es kein Pull-Faktor ist. Aber für mich ist das kein Thema. Wir müssen Menschen aus Seenot retten - egal, warum jemand kommt."
UN: Dieses Jahr 260 Migranten ertrunken oder verschollen
Nach UN-Angaben ertranken oder verschollen seit Jahresanfang über 260 Migranten, die meisten von ihnen auf der zentralen Mittelmeerroute. Im EU-Parlament kritisieren deshalb viele Abgeordnete die Politik der italienischen Regierung, die mit immer neuen Maßnahmen versuche, die Seenotrettungsschiffe zu behindern. Rückendeckung bekommt Italien von anderen EU-Mittelmeerstaaten wie Malta, Zypern oder Griechenland.
In der Union bleiben die privaten Seenotretter ein Streitpunkt, sagt Beate Gminder, Vizechefin der Generaldirektion Migration und Inneres bei der EU-Kommission. "Ich kann nicht sagen, ob Seenotrettung ein Pull-Faktor ist. Ich kann nur sagen: Wir haben viele Boote gesehen, auf die Menschen steigen, obwohl sie wissen, wie gefährlich das ist."
Offenbar ergebnislose Sitzungen
Klar sei, dass Seenotrettung in der Verantwortung der einzelnen Staaten liegt, so Gminder. "Wir als EU-Kommission versuchen, eine bessere Koordinierung bei der Seenotrettung zu erreichen. Ziel ist, zu verhindern, dass Menschen auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren."
Deshalb hat die EU-Kommission im vergangenen Jahr eine Kontaktgruppe für Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer gegründet. Damit soll erreicht werden, dass alle Akteure - wie private Seenotretter und Frontex - die Mittelmeerländer und jene, unter deren Flagge die Rettungsschiffe fahren, besser kooperieren.
Bisher gab es vier Sitzungen der Kontaktgruppe, die jedoch nach Meinung von Teilnehmern ergebnislos verliefen. Völlig unklar bleibt bisher auch, ob die EU-Kommission wieder gemeinsame Such- und Rettungsmaßnahmen im Rahmen des europäischen Grenzschutzes anstrebt.